Die Blutige Sonne - 14
ihnen. Ihr kindlicher Mund formte unhörbare Worte, ihr Gesicht verzog sich zur Grimasse eines kleinen Mädchens, das nicht weinen möchte. „Nein“, flüsterte sie wieder. „Hast du denn vergessen, was ich bin? Avarra, habe Mitleid mit mir“, flehte sie keuchend; sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, dann floh sie aus dem Zimmer, fiel fast über einen Stuhl, der ihr im Wege stand, wich aber geschickt Jeff aus, der sie aufhalten wollte. Ihre leichten Schritte verloren sich in der Halle. Weit weg, hoch oben im Turm, hörte er, wie eine Tür zufiel.
In den folgenden drei Tagen traf er nicht mit Elorie zusammen. Es war dies das erste Mal, seit er im Turm lebte, daß sie den abendlichen Ritus von Drinks und Gesprächen nicht teilte. Von dem Augenblick an, da Elorie vor ihm geflohen war, fühlte er sich abgeschnitten und allein gelassen, ein Fremder in einer Welt, die plötzlich erkaltet war.
Die anderen nahmen Elories Zurückgezogenheit als selbstverständlich hin; Kennard erklärte Kerwin mit einem Achselzucken, daß die Wärterinnen das von Zeit zu Zeit taten. Jeff, der in sich eine starke Barriere gegen unbewußten Verrat errichtet hatte, antwortete nichts, aber Elories Augen schienen, vor Angst und Ekel düster glühend, vor ihm in der Dunkelheit zu schwimmen, und Nacht für Nacht fühlte er, wenn er wach lag, die fast körperliche Erinnerung ihres Kusses auf seinen Lippen, ihres zarten, erschreckten Körpers in seinen Armen.
Zuerst war er nur halb betäubt von der plötzlichen Sprengung des Kontaktes zwischen ihnen, er fühlte sich schwach unter dem Alpdruck von Elories Zusammenbruch. In seinem Schock verstand er nichts mehr; halb enttäuscht, halb ärgerlich, begriff er weder ihre Hingabe, noch daß sie sich ihm plötzlich entzogen hatte.
Aber dann begann er langsam und schmerzlich zu verstehen.
Er hatte das geheiligte Gesetz der Com’yn gebrochen. Eine Wärterin war eine geweihte Jungfrau, für ihre Arbeit geschult; Körper und Geist hatten in langen Jahren auf ihre schwere und gefahrvolle Arbeit vorbereitet werden müssen. Für jeden Mann auf Darkover war Elorie unverletzbar, sie stand jenseits aller Wünsche. Als Wärterin mußte sie jedem Begehren, sogar der reinsten Liebe unerreichbar bleiben.
Er hatte gehört, was sie über Cleindori sprachen; noch schlimmer, er hatte ihre Gefühle gespürt, und Cleindori hatte ihr Gelöbnis gebrochen mit einem der verachteten Terraner!
Wäre er ein anderer gewesen, so hätte er sich vielleicht damit freigesprochen, daß Elorie ihm ja entgegengekommen war, daß er nur das genommen hatte, was sich ihm selbst anbot. Für Kerwin aber gab es keine so billigen Ausflüchte. Elories Unschuld war ihm immer gegenwärtig gewesen, ihre kindliche Art, den anderen Männern im Turm ihre Zuneigung zu zeigen. Sie hatte dem Tabu vertraut, das sie schützte; für sie alle war sie genauso geschlechtslos gewesen wie ein anderer Mann oder wie ein Kind.
Und sie hatte Jeff auf die gleiche unschuldige, unbedachtsame Art akzeptiert – aber er hatte ihr Vertrauen enttäuscht!
Noch schlimmer aber war die entsetzliche Furcht, die ihm das Herz zerschnitt. Kennard hatte ihn gewarnt vor den Folgen einer Gemütsbewegung, vor der nervösen Erschöpfung, der er unterliegen konnte, und er hatte ihm geraten, sich in den Tagen vor der Arbeit am Matrix von Taniquel fernzuhalten. Taniquel! Seine Gefühle für sie erschienen ihm nun wie ein Traum. Ja, er hatte sie geliebt, aber diese Liebe war nur Dankbarkeit für ihr Verständnis, ihre Freundlichkeit gewesen. Sie war ganz anders als dieses ungeheure, brennende Gefühl, das sein ganzes Bewußtsein überschwemmte.
Die Wärterinnen verschlüsselten ihren Körper, ihre Seele vollkommen in den Matrix, an dem sie arbeiteten. Deshalb mußten sie Gemütsbewegungen von sich fernhalten. Seine Erinnerung schweifte zurück zur ersten Nacht in Arilinn; er dachte an die nervöse Qual in ihren Worten: „Wir werden von Kindheit an dafür geschult – und manchmal verlieren wir diese Fähigkeit innerhalb weniger Jahre.“
Und nun hing wahrscheinlich das Schicksal Darkovers einzig und allein an der Stärke des Turmes von Arilinn, am Erfolg ihrer Arbeit. Und der Erfolg dieser Arbeit hing wieder ab von der Stärke und dem Mut der behüteten, im Mittelpunkt der Arbeit stehenden Wärterin. Jeff Kerwin, der Fremdling, hatte das Vertrauen der anderen enttäuscht und die Abwehr der Wärterin durchbrochen.
Als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war,
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