Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
setzte.
Mkal spielte unbekümmert mit seinem Zug, er war kein deutsches Kind, das von schockierten Dienerinnen schreiend
davongetragen wurde, weil er Zeuge des Liebesaktes seiner Eltern war.
»Unsere Tochter wird eines Tages Königin werden«, flüsterte Aisha Nakondi und umfasste mit ihren starken Händen seine Schultern, um sich immer schneller und erregter vor und zurück bewegen zu können.
»Für mich wirst du immer Afrika sein«, flüsterte er, ohne richtig zu verstehen, was er damit meinte.
XX
INGEBORG
Bergen/Sognefjord, Juli 1913
Sie hatte sich nie mit Ustaoset, dem Wort an sich, anfreunden können. Sechs Jahre lang hatte sie fast täglich Norwegisch gelernt, zu Hause mit einem Privatlehrer und in der kleinen Wohnung in der Rosenkrantz Gate in Kristiania, was sich auszahlte. Inzwischen konnte sie auf Norwegisch fast an allen Unterhaltungen teilnehmen, ob es nun um Ziegenkäse, die Sozialdemokratie oder das Stimmrecht der Frauen ging. Vor allen Dingen Letzteres.
Aber ihre Fremdheit dem Namen Ustaoset gegenüber hatte sie nie überwunden. Davon abgesehen war es einer der schönsten Orte, die sie kannte.
Sie hatte im Übrigen die Schwierigkeiten, Norwegisch zu lernen, sehr unterschätzt. Die Grammatik war zwar einfacher als die des Deutschen und Englischen, aber die Aussprache sehr viel schwerer, als sie gedacht hatte, insbesondere, da sie den Ehrgeiz hatte, Norwegisch genauso gut zu sprechen, wie Lauritz Deutsch sprach. Aber man hörte ihr noch immer an, dass sie Ausländerin war, und allmählich begann sie, die Hoffnung, was diese Sache anging, aufzugeben.
Zum Glück war ihre deutsche Herkunft in Norwegen, insbesondere in Bergen, nichts Nachteiliges.
Ustaoset . Sie sprach es sich noch einmal vor, sicherlich zum vierhundertsten Mal. Vermutlich war kein Norweger so oft mit der Bergenbahn gefahren wie sie. Fast fünf Jahre, bei Sonne, Regen und Schneesturm, hin und zurück. Es war schon eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet sie so oft mit der Eisenbahn unterwegs war. Was ihr Lauritz in den ersten Jahren in seinen Briefen nicht alles über die Bahn berichtet hatte, als das Leben ihnen nicht nur zugelächelt hatte!
Nachdem sie nach der Hochzeit in Dresden in Norwegen eingetroffen und ihre Schwiegermutter Maren Kristine, Aagot und die drei Cousinen glücklich wieder auf Osterøya gelandet waren und nachdem sie endlich ihr Haus in der Allégaten bezogen hatten, hatten sie ihre erste Reise nach Finse unternommen.
Damals hatte sie nur wenige norwegische Sätze, Höflichkeitsfloskeln vor allem, beherrscht, aber in Finse sprachen alle, das Wirtspaar und die Gäste, ausgezeichnet Deutsch. Alice Klem und sie hatten sich sofort angefreundet. Manchmal, wenn sie den ersten Zug von Kristiania nehmen konnte, machte sie einige Stunden in Finse Station, um Alice auf der Glasveranda Gesellschaft zu leisten. Sie unterhielten sich über Suffragetten und über norwegische Männer, die, darin waren sie sich vollkommen einig, gewisse Vorzüge vor Deutschen und Engländern hatten.
Ustaoset . Wenn der Zug Ustaoset passierte, das war ein Ritual, legte sie immer die Bücher beiseite und widmete sich ganz der Aussicht, die sie auch nach so vielen Jahren nicht langweilte. Das Wetter und der Wechsel der Jahreszeiten
trugen dazu bei, dass die Landschaft sich ständig veränderte. Aus Liebessolidarität mit Lauritz – das Wort stammte aus einem von Christas Briefen aus Berlin – schaute sie immer auf die Hardangervidda hinaus. Jetzt kam die lange, angenehme Strecke an dem in der Sonne glitzernden Ustavand entlang. Es hieß, dass der Sommer 1913 der heißeste, schönste und trockenste Sommer sei, an den man sich in Westnorwegen erinnern konnte.
Das strahlende Licht über dem Ustavand passte zu ihrer Stimmung. Unter Intellektuellen galt es als kleinbürgerlich-spießig, sich selbst als glücklich zu bezeichnen. Das scherte sie einen Teufel. Genau das. Geradezu genüsslich ließ sie sich die grobe Ausdrucksweise auf der Zunge zergehen, aus Protest gegen ihr kleinbürgerliches, unintellektuelles Glücksgefühl.
Beim Abendessen würde sie einen der wichtigsten Momente ihres Lebens erleben. Wie damals auf der Ran , als ihr Vater Lauritz plötzlich das Du anbot und Lauritz nicht gleich begriff, was das zu bedeuten hatte, nämlich die endgültige Kapitulation ihres Vaters.
Das war der große Augenblick gewesen. Alles Weitere war dann nur eine Folge der Kapitulation. Die Hochzeit in der Kapelle von Schloss Freital, die Gäste,
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