Die Comtessa
Schließlich ist unser Gast eine
vescomtessa.
«
Ermengarda zwinkerte der kleinen Ada freundlich zu. »Ich habe eine Schwester in deinem Alter«, sagte sie. »Sie würde dir bestimmt gefallen. Nina heißt sie. Und ich vermisse sie sehr.«
***
Am Nachmittag des nächsten Tages zog es Ermengarda in die Kapelle gegenüber der Burg, um in Ruhe nachzudenken. In einer kleinen Festung wie Rocafort war es eng, man war immerfort von Menschen umgeben, Gesinde, Wachleute, Mägde. Knechte, die Futter für die Pferde abluden, Bauern, die etwas zu besprechen hatten, oder Dorfweiber, die im Vorhof ihr Brot buken. Hier in der winzigen Kirche hoffte sie, eine Weile allein zu bleiben, denn es verlangte sie nach Stille und Besinnung, um ihre Gedanken zu ordnen.
Sie zog den Umhang enger um die Schultern, denn es war kalt im Inneren des Gemäuers. Nur eine einzelne Kerze auf dem Altar erhellte den spärlich ausgestatteten Innenraum. An ihr entzündete sie eine zweite und betrachtete das schöne Heiligenbild der Mutter Gottes, das in einer Nische hing. In kräftigen Tönen und mit Goldfarbe verziert, zeigte es die Jungfrau Maria, die mit Liebe und sanfter Trauer auf das Kind in ihren Armen blickte, als erahne sie bereits das Schicksal, das der Herrgott dem Sohn vorgezeichnet hatte. Ein Geschenk, das
Domna
Adela als Elfjährige aus Outremer mitgebracht hatte, ein Andenken an die Kindheit und an ihre Mutter, die in den Hügeln über Tripolis begraben lag.
Bei der Betrachtung der Madonna fragte sich Ermengarda, ob ihre eigene Mutter sie wohl je so zärtlich gehalten hatte. Als sie fünf war, war auch der Vater gestorben, drei Jahre später ihr Bruder. Seitdem war sie als Waise aufgewachsen.
Auch wenn Rocafort wie eine Familie für sie geworden war, so eine, wie sie nie gehabt hatte, durfte sie dennoch nicht ewig bleiben. Ihre Verletzung war geheilt, es war an der Zeit, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.
Unwillkürlich tastete sie unter dem Umhang nach den vernarbten Wunden. Es tat nicht mehr weh, nur noch ein mildes Prickeln ließ sich spüren, wenn sie daran rührte. Doch die Erinnerung an den Schuss war ihr jeden Tag gegenwärtig. Dass es die eigene Stiefmutter gewesen war, die den Todesschützen bestellt hatte, konnte sie nicht vergessen. Außerdem war der Mörder immer noch da draußen. Und wenn nicht er, dann ein anderer. Sie musste sich von der Bedrohung befreien. Und es dürstete sie, zum Gegenschlag auszuholen. La Belas Tat musste gesühnt werden.
Leider hatte die Nachricht Rocafort erreicht, dass das Kriegsglück der Trencavels sich gewendet hatte, dass die Brüder mehr darauf bedacht waren, ihr Gebiet zu schützen, als Alfons weiter anzugreifen. Vielleicht hielt man die junge Erbin für tot. Ja, das musste es sein. Für die Trencavels war sie seit Monaten verschollen, und für eine tote Ermengarda musste man sich nicht mehr ins Zeug legen. Ihr öffentliches Erscheinen war also wichtig. Sie sollte für sich selbst einstehen, den Verbündeten Mut machen. Möglicherweise konnte sie das Heft herumreißen, sie überzeugen, mehr Eifer in den Kampf zu legen und Alfons zu zwingen, seine Ansprüche aufzugeben.
Außerdem würde sie an den König schreiben, wie Raimon es vorgeschlagen hatte, sicher auch nach Barcelona. Vielleicht ließe sich sogar Geld auftreiben, bei den
cambiadors
in Carcassona zum Beispiel. Für irgendetwas musste ihr Titel doch gut sein. Dann könnte sie selbst ein Heer aufstellen. Aber gleich kamen ihr wieder Zweifel. War das nicht vermessen? Sie war doch kein kriegserfahrener Mann, nur ein junges Mädchen. Was konnte sie schon ausrichten? Aber eine innere Stimme flüsterte beharrlich, warum nicht, warum nicht?
Je mehr sie in den letzten Wochen erlebt und über alles nachgedacht hatte, je mehr hatte sie begonnen, die Zusammenhänge zu begreifen. Nun war es an der Zeit, diese Einsichten für sich zu nutzen. Sie musste endlich wie eine Fürstin denken und handeln, eben nicht mehr wie ein junges Mädchen. Vielleicht konnte Felipe seinen Vater umstimmen, ihr zu helfen. Sie sollte ihn dazu bewegen, sich mit dem Vater zu versöhnen. Auf den Erzbischof konnte sie nicht zählen. Aber da waren die Bürger von Narbona, die Kaufleute. Auch sie hatten Macht. Und die Juden mit ihrem Geld. Sie überlegte. Was gab es noch für Möglichkeiten?
Hinter sich spürte sie einen Luftzug. Die Kerzen flackerten. Als sie sich umdrehte, gewahrte sie Felipe, der in die Kapelle getreten war. »Ich möchte dich nicht stören«, sagte
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