Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
mehr.«
»Nur damit ich auch alles richtig verstanden habe: Ihre Beweise sind bisher eine Reifenspur und ein Zeuge, der nachts im Schneetreiben einen Volvo gesehen hat?«
Wenn man es so zusammenfasste, dann klang das wirklich nicht überwältigend. Auch der Staatsanwalt spürte meine plötzliche Unsicherheit.
»Schaffen Sie mir belastbares Material bei, Herr Gerlach«, sagte er milde. »Und dann telefonieren wir noch mal an, ja?«
In einer so verzwickten Situation wie der, in der ich in diesen Stunden steckte, gibt es im Grunde nur zwei Handlungsoptionen: Entweder man hält still, um den Gegner in Sicherheit zu wiegen, und hofft, dass er früher oder später leichtsinnig wird. Oder aber man kommt früh aus der Deckung, stichelt und nervt, um ihn nervös zu machen und zu Fehlern zu verleiten. Auf die Gefahr hin, dass der eine oder andere Gegner dann plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Noch während ich das Für und Wider der beiden Möglichkeiten abwog, klingelte wieder einmal mein Telefon.
»Professor Gericke«, stellte sich ein Mann undefinierbaren Alters mit selbstbewusster Stimme vor. »Privatdozent am Institut für Rechtsmedizin. Es geht um die Leichensache Hergarden.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Um es kurz und knapp zu sagen, denn schließlich ist ja Wochenende: Der Mann war schon tot, als der Zug ihn überfahren hat. Vermutlich schon eine bis zwei Stunden.«
»Und woran ist er gestorben?«
»Nach dem ersten Augenschein: Herzinfarkt. Er hat offenbar schon länger an einer chronischen Koronarinsuffizienz gelitten.«
»Er hat was am Herzen gehabt«, konnte ich bestätigen. »Er litt unter starker Atemnot.«
»Eines der gängigen Symptome. Im fortgeschrittenen Stadium ist das Risiko eines Infarkts beträchtlich.«
»Aber wer um Himmels willen wirft einen Menschen vor den Zug, der an einem Herzinfarkt gestorben ist?«, fragte ich nach einer Denksekunde.
»Diese Frage fällt wohl eher in Ihr Ressort«, meinte der Privatdozent kühl.
»Wäre es denkbar, dass er … Dass es zum Beispiel eine Schlägerei gegeben hat, in deren Verlauf sein Herz schlappgemacht hat?«
»Das ist sogar sehr gut denkbar. Starker Stress ist häufig der letzte Auslöser eines Infarkts.«
»Dann müsste er Verletzungen haben, die nicht durch den vorgetäuschten Selbstmord verursacht worden sind.«
»Da kann ich Ihnen möglicherweise sogar weiterhelfen. Der Tote hat deutliche Strangmarkierungen an den Handgelenken.«
»Er war gefesselt, als er starb?«
»So sieht es aus. Nach dem ersten Blick durchs Mikroskop mit einem älteren und ziemlich schmutzigen Hanfseil.«
»Spuren von einem Kampf? Abwehrverletzungen?«
»Unter den Fingernägeln war nichts zu finden außer Schmutz, der auch vom Bahndamm stammen könnte. Wird ein Weilchen dauern, bis wir hier klarer sehen. Ansonsten … nicht leicht zu sagen beim beklagenswerten Zustand des Leichnams. Die meisten Verletzungen, die ich dokumentiert habe, sind ihm unzweideutig postmortal beigebracht worden.« Der Privatdozent hustete zweimal kräftig, fuhr dann fort: »Soll ich Ihnen meinen vorläufigen Bericht schon mal zukommen lassen? Den offiziellen werden Sie frühestens am Mittwoch kriegen, weil zwei unserer Schreibkräfte wegen grippaler Infekte außer Gefecht sind. Und außerdem wird mir meine Frau den Krieg erklären, wenn ich nicht in Kürze nach Hause komme.«
Ich wusste zwar nicht, inwiefern mir der schriftliche Bericht weiterhelfen konnte, aber sicher war sicher. Minuten später piepte eine Mail, an der ein kurzes Word-Dokument hing. Ich überflog es, ohne dabei wirklich klüger zu werden, schloss es wieder. Öffnete es erneut, weil mich etwas irritiert hatte, las den in Stichworten abgefassten Text ein zweites Mal, der zahllose offene und geschlossene Knochenfrakturen, mehr oder weniger tiefe Schnittwunden und großflächige Abschürfungen auflistete. Wieder entdeckte ich nichts Auffälliges. Ich schloss die Datei erneut, aber das unzufriedene Gefühl in meinem Bauch blieb. Schließlich las ich den von medizinischen Fachausdrücken strotzenden Text ein drittes Mal, Wort für Wort für Wort, und nun endlich entdeckte ich, was nicht stimmte: Es stand gleich in der ersten Zeile – der Vorname des Toten lautete Uwe. Nicht Fred.
Glücklicherweise erwischte ich Professor Gericke noch in seinem Büro.
»So steht es im Totenschein: Uwe Hergarden. Möglicherweise ein Fehler Ihrer Kollegen?«
Der Kollege vom Kriminaldauerdienst, mit dem ich kurz darauf
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