Die Erben der Nacht - Pyras
haben.«
Luciano hob die Schultern. »Eben, das ist doch kein Grund für so eine Laune.«
»Für jemanden, der so anspruchslos ist wie du, vielleicht nicht«, ätzte Franz Leopold. »Aber ich habe Besseres zu tun, als meine Nächte mit sinnlosem Kinderkram zu verschwenden.«
»Zum Beispiel?«, hakte Luciano nach.
»Mit eigenen Augen sehen, was vor sich geht«, rief Franz Leopold.
»Unsere Sinne weiter schärfen oder vor ganz neue Aufgaben gestellt werden«, sagte Alisa.
»In Eriks Bücherei nachsehen, was noch über diesen fremden Clan zu finden ist«, ergänzte der Dracas.
»Uns Kleider besorgen, um Verdis Aida sehen zu können«, fügte die Vamalia an.
»Alles ist besser, als die Zeit auf diese Weise totzuschlagen«, endete Franz Leopold, und Alisa nickte zustimmend.
Luciano sah von einem zum anderen. »Ich weiß ja nicht, was mit euch beiden los ist, aber diese plötzliche Einigkeit ist mir nicht geheuer. Ich fand eure ewige Zankerei ja immer nervtötend, aber wenn ich so darüber nachdenke, dann wäre es mir, glaube ich, lieber, wenn ihr dazu zurückkehren könntet, denn freundschaftlich verbunden seid ihr einfach unerträglich!« Mit steifen Schritten stakste er davon. Alisa und Franz Leopold sahen einander an.
»Wir? Freundschaft und Einigkeit? Nie und nimmer!«, rief Alisa und rückte ein wenig von dem Dracas ab.
»Nein, das wird eine Ausnahme bleiben, dass wir einmal einer Meinung sind«, bestätigte Franz Leopold und gesellte sich zu seiner Familie. Alisa sah ihm nach.
»Das hört sich ja fast so an, als würde Luciano meinen, Franz Leopold und ich seien einander ähnlich«, sagte Alisa zu Ivy und zog eine Grimasse des Abscheus.
»Wäre das denn so schlimm?«
»Das ist keine ernst gemeinte Frage, oder? Schlimm ist gar kein Ausdruck! Das wäre furchtbar, eine Katastrophe! Aber was rege ich mich auf? Es ist einfach nur absurd! Es gibt nichts, in dem Franz Leopold und ich uns auch nur ein wenig ähneln!«
»Aber deshalb dürft ihr doch mal einer Meinung sein.« Ivy grinste.
»Das ist nicht zum Lachen!«, gab Alisa heftig zurück. »Aber um deine Frage zu beantworten: Wenn es nicht zu häufig vorkommt, dann ist es nicht allzu schlimm.«
Ivy wurde ernst. »Er ist doch dein Freund, nicht wahr? Ich jedenfalls sehe ihn als einen guten und verlässlichen Freund.«
Alisa zögerte. »Ja, wenn du es so siehst. Er ist mutig, und ich denke, wir können uns im Ernstfall auf ihn verlassen - aber deshalb bin ich ihm noch lange nicht ähnlich!«
Bram Stoker schlenderte um die Oper herum. Er betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten, darin unterschied er sich nicht von den vielen anderen Besuchern. Sie war ja auch ein Meisterwerk der Baukunst! Er trat auf dem Platz ein Stück zurück, um die Hauptfassade mit einem Blick erfassen zu können. Die klassischen Säulen, Konsolen und Gesimse, die vielen Farben des Marmors und das Gold an Büsten und Kapitellen. Alles war verspielt bis ins kleinste Detail und fügte sich dennoch zu einem großartigen Ganzen, das auf jeder Seite von einer Figurengruppe gekrönt wurde. Die in der Sonne golden glänzenden Skulpturen waren der Dichtkunst und der Harmonie gewidmet. Doch sosehr Bram Stoker die architektonische Meisterleistung Garniers bewunderte, seine Gedanken waren mehr auf das Innere der Oper gerichtet. Genauer gesagt auf das Wesen, das dort hauste und der Direktion das Leben schwer machte. Noch immer war er dem Phantom keinen Schritt näher gekommen. Wie konnte er es aufspüren? Jeden Abend die Oper besuchen und auf einen Zufall
hoffen? Das würde seine Finanzen schwer belasten, vor allem wenn er sich in einer der Logen einzumieten gedachte. Was Oscar von diesem Vorschlag hielt, wusste er, auch ohne ihn dem Freund zu unterbreiten. Zwar war es für Oscar durchaus in Ordnung, jeden Abend mit seinen neuen Dichterfreunden in einem Varieté oder einem Tanzlokal wie dem Reine Blanche zu verbringen, ein Dauergast in der Oper zu werden - vor allem aus dem zweifelhaften Grund, einem Phantom zu begegnen -, würde er dagegen als verrückt bezeichnen. Vielleicht war es das ja auch, dachte Bram mit einem Schmunzeln.
Er schlenderte an der westlichen Fassade entlang und umrundete die geschwungene Auffahrt zur Kaiserloge, die niemals einen Regenten gesehen hatte. Die Geschichte hatte die Bauzeit überholt, Krieg und Aufstand den Kaiser zum Abdanken gezwungen. Zum Glück war der Umbruch gekommen, bevor Ausbau und Dekoration der westlichen Galerie und des eigenen Treppenhauses
Weitere Kostenlose Bücher