Die Frau am Tor (German Edition)
und blind vorwärts für das, was ihn umgab, er achtete nicht einmal auf die Autos, die hin und wieder an ihm vorüberfuhren oder auf gelegentliche andere späte Passanten. Er ging immer nur weiter und weiter, bis dorthin, wo die Bebauung wie abgeschnitten endete, und dann im großen Bogen zurück. Er wanderte wie gefangen in einer Blase der sensorischen Verweigerung - jedenfalls so lange, bis er auf einmal feststellte, dass er sich in der Kolbestraße befand und das selber kaum fassen konnte.
Vor Julias Haus blieb er stehen und ertappte sich dabei, wie er es mit forschendem Blick betrachtete. Ruhig und dunkel lag es da. Die Rollläden waren heruntergelassen, die Garageneinfahrt leer, ihr silbergrauer BMW nirgendwo am Straßenrand zu entdecken. Das hieß, dass er vermutlich in der Garage stand, während ihr Mann wohl wieder mal mit seinem eigenen Wagen unterwegs war.
Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, dass er schon einmal nachts vor diesem Haus stehengeblieben war. Er wünschte sich, es hätte diese Nacht nie gegeben.
Und war es tatsächlich erst gestern gewesen, dass sie ihn frühmorgens durch ihren Anruf aus dem Bett gescheucht hatte, um ihm den Erpresserbrief zu präsentieren? Seither hatte er nichts mehr von ihr gehört.
Er schaute auf die Uhr, es ging auf Mitternacht zu. Womöglich hatte sie ja versucht, ihn zu erreichen, und es, nachdem sie gemerkt hatte, dass dies per Telefon nicht möglich war und auch sein Auto nicht vor der Tür stand, irgendwann aufgegeben. Er konnte nur hoffen, dass es so war, dass sie nicht abermals bei Bergheim angeklingelt hatte. Aber der hätte es ihm bestimmt vorhin gesagt, denn zweifellos war ihm nicht entgangen, was sich an seiner Wohnungstür abgespielt hatte, nachdem Eva gekommen war, die dann auch noch Kurowski um Unterstützung gebeten hatte, um seinem alkoholisierten Eremitendasein ein Ende zu bereiten.
Insgeheim hoffte er, dass das Kapitel Kolbestraße ein für allemal für ihn abgeschlossen sein möge und Julia von nun an Ruhe gab, und während er sich eilig von ihrem Haus entfernte, biss sich dieser Wunsch regelrecht in seinem Gehirn fest. Aber zugleich war da eine flaue, beklommene Unsicherheit, die auch nicht dadurch gemildert wurde, dass jetzt die letzten Nachwirkungen seines Absturzes endgültig verflogen zu sein schienen und er sich völlig nüchtern fühlte – richtig nüchtern und vor allem müde genug, um sich nach seinem Bett zu sehnen. Nur noch wenige Schritte, dann würde der es geschafft haben.
Da sah er ihren Wagen.
Er stand mit abgeschaltetem Licht genau an der Stelle unter der Laterne, an der er immer seinen Alfa geparkt hatte, und er wollte sich sofort umwenden, um wieder wegzugehen, doch genau in diesem Moment flammten die Scheinwerfer auf und der Wagen kam auf ihn zugeschossen und stoppte erst, als er mit einem Vorderrad auf der Bordsteinkante war - so dicht vor ihm, dass er zur Seite springen musste, um nicht von ihm erfasst zu werden.
Die Fahrertür flog auf und Julia stürzte heraus und auf ihn zu. Er befürchtete schon, sie wolle sich auf ihn werfen und an ihn klammern und wich abermals zurück. Doch etwa anderthalb Meter vor ihm blieb sie stehen. Die Scheinwerfer blendeten ihn einen Moment lang, aber ihre Silhouette verriet ihm, dass sie einen kurzen, leichten Mantel anhatte, dessen Gürtel straff gebunden war.
Sie standen einander schweigend gegenüber. Nachdem sich seine Augen auf die Lichtverhältnisse eingestellt hatten, konnte er einiges in ihrem Gesicht lesen. Es waren Zeichen, die er nicht zum ersten Mal registrierte und die nichts Gutes verhießen. Er spürte, wie sich sein ganzer Körper zu einem unausgesprochenen Nein verkrampfte.
Endlich wollte er doch den Mund aufmachen wollte, doch sie kam ihm zuvor und sagte sie mit ihrer nahezu tonlosen, unnatürlich ruhigen Stimme, die er auch schon kannte:
“ Du machst es einem neuerdings ganz schön schwer, dich anzutreffen oder überhaupt nur zu erreichen. Du tauchst einfach ab und stellst dich tot. Ich musste hier endlos auf dich warten. Aber der nette alte Herr aus deinem Haus meinte, dass du ja wohl irgendwann mal wieder hier auftauchen müsstest. Ich musste ihn extra aus dem Bett klingeln.”
“ Was willst du von mir? Geh einfach, lass mich in Ruhe. Steig in deinen Wagen und fahre nach Hause oder sonst wo hin, aber lass mich in Ruhe, ein für allemal”, herrschte er sie an, fest entschlossen, keinen Millimeter nachzugeben, diesmal nicht mehr und nie wieder. Und mit
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