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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Nacht, als gäbe Zeus ein Zeichen, dass der schreckliche und lang erwartete Moment gekommen sei. Vom Meer her traf unser Haus ein heftiger Windstoß. Die Fackeln erloschen. Neue Blitzschläge erleuchteten mit beängstigendem, jenseitigem Licht die Nacht, den dunklen Saal und uns, die im plötzlichen Himmelsdröhnen und Erdbeben erstarrten, unterweltlich bleichen Gestalten.
    IX
    Die Gäste gingen, erschrocken und wortlos. Die Diener stoben auseinander und begaben sich verängstigt zur Ruhe. Ich blieb mit Ulysses allein. Der Augenblick, den ich erwartet und vor dem ich mich gefürchtet hatte, war gekommen. Die Nacht, in der es um den Sinn unseres gemeinsamen Lebens ging – in der ich begriff, dass das Leben mit diesem Mann sinnlos ist. In dieser Nacht lernte ich, dass Menschen niemals so gefährlich sind, wie wenn sie Rache üben für Sünden, die sie selbst begangen haben.
    An dem Nachmittag, der dieser Nacht voranging, hatte Aiolos aus einer Höhle seiner rauchenden Bergwohnung Notos, die böse Furie des warmen Windes, über das Land geschickt. Aber es fiel kein Regen, sosehr ihn auch das trockene, rissige Land und die wunden Körper der Tiere und Menschen erwarteten. Ein trockener Sturm tobte über Ithaka, mit dichten Blitzschlägen. Der heiße Wind trieb Staubwolken über Felder und Meer. Der würzige Duft der Insel Thrinakia schwamm in der heißen, schwarzen Luft; diesen schwangeren, aufreizenden Duft verstreute der Südwind im weiten Umkreis.
    An jenem Abend hatte Ulysses wenig getrunken. Nur manchmal hatte er seinem Kelch ein wenig Wein beigemischt, in den er einige Tropfen Kykeon spritzte – einige Tropfen von dem schrecklichen Rauschgift, an das er sich in Kirkes Haushalt gewöhnt hatte und von dem man wird wie ein Gott und wie ein Tier.
    Jetzt, da ich an diese Nacht zurückdenke, sehe ich uns beide, als wären die Harpyien, die Töchter der Windstürme über der Erde und unter dem Meer, in unsere Seelen eingezogen. Alles in uns öffnete sich wie die Erde, wenn sie Feuer speit, weil die Geister der Unterwelt mit den Ketten rasseln. Es war grauenhaft, und zugleich verließ mein Herz für keinen Augenblick das Gefühl, dass ich auf diese Nacht gewartet hatte, seit ich Ulysses kannte. Alles, was in der ferneren und näheren Vergangenheit geschehen war, die Erinnerung an Helena, dann die Reise meines Mannes, seine Abwesenheit, der Kriegszug, das Warten, die schreckliche Heimkehr, der Augenblick, als Eurykleia mir an jenem ebenso fürchterlichen wie großartigen Morgen meldete, dass mein Mann heimgekommen sei und meine Freier getötet habe: All die schrecklichen Erinnerungen verblassten im unheilverkündenden Glanz dieses Augenblicks. Bisher hatte ich nur mit ihm gelebt und auf ihn gewartet. Jetzt – so glaubte ich – hatte ich ihn kennengelernt.
    Er ging rasch auf und ab. Der fünfzigjährige Mann bewegte sich so leicht wie ein Jüngling. Die Leiden und Abenteuer hatten seinen Körper nicht zerschunden. Mit leichten, beiläufigen Bewegungen konnte er morden und umarmen. Jetzt sprach er, als wäre er betrunken, mit flinker Zunge. Er begann zu reden wie ein Gorgonenhaupt. Die Klagerede, die er hielt, machte Lebende und Tote, Menschen und Götter zugleich schlecht. Manchmal röchelte er, fuchtelte mit den Armen, als hielte er eine Rede vor einer unsichtbaren Versammlung, vor einem himmlischen Gericht.
    Was sagte er eigentlich?
    Jedes Wort war eine Anklage, eine wilde Flut, so wie das Meer anschwillt, wenn der Mond das tiefe Wasser herbeiruft und sich die Wellen mit erbitterter Kraft in die Uferfelsen meißeln. Genauso fräste er seine Erinnerungen und ließ sie dröhnen.
    »Ich wollte nicht fortgehen«, rief er, »erinnere dich! Als sie kamen und mich riefen, wollte ich hierbleiben!« Er presste sich die Fäuste an die Schläfen.
    Das stimmte. Früher, zu Beginn unseres Ehelebens, sagte er oft, am Grunde des menschlichen und göttlichen Lebens, hinter der Ordnung und dem gefälligen Schein, halte sich eine schreckliche und dunkle Macht verborgen: der Wahnsinn. Und man verteidige sich am besten, indem man sich irrsinnig stellt. Als ihn die wahnsinnigen Männer von zu Hause fortriefen, weil er vor den Mauern von Troja für eine fixe Idee kämpfen sollte, wehrte er sich mit Händen und Füßen, mit Pferd und Ochs.
    »Aber schließlich bist du gegangen!«, rief ich. Meine Worte klangen wie ein Schrei. Der Blitzschlag, der Donner, das Brüllen des Meeres, das durch den Vollmond aufgewühlt war, und das beunruhigende

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