Die Geisterseherin (German Edition)
Ich erwarte nicht, dass er wieder zurück kommt, er führt jetzt sicherlich ein eigenes und wohl auch besseres Leben... aber ein Besuch... ein einziger Besuch wäre schon das schönste Geschenk, was er mir machen könnte.“
Der Mann schluckte hart und Kinoshita konnte erkennen, dass er gegen die Tränen ankämpfte.
„Wissen Sie...“, murmelte der Mann schließlich. „Seitdem... meine Frau dem Virus erlegen ist... habe ich viele Suchanzeigen geschaltet. Sie hat... sich sehr gegrämt, sich gewünscht, sich bei ihm zu entschuldigen...“
Er brach ab und senkte den Blick, hatte anscheinend nicht die Kraft weiter zu sprechen. Selbst zwanzig Jahre später waren die Wunden, die Yuki in die Familie gerissen hatte, noch zu frisch. Im Gegensatz zum Tod eines Mitglieds der Familie durch den Virus, nagte hier ja auch die Ungewissheit über den Verbleib der Person an einem. „Dann ist seine Mutter also tot... das tut mir leid zu hören.“ „...“
Yuki's Vater erwiderte nichts und Kinoshita ließ ihm ein paar Minuten Zeit, um sich zu beruhigen. Erst dann fragte er weiter.
„Ich weiß, dass die Sache für Sie schwierig ist, aber ich muss Sie fragen, ob Sie eventuell irgendwelche Informationen haben, die mir nützen könnten. Ich weiß inzwischen, dass er damals wohl in Richtung Tokio unterwegs war, mit dem Zug und dass...“ „Nein... er ist nicht nach Tokio...“, widersprach ihm herrisch Yuki's Vater mitten im Satz.
„Huch...?“
Doch statt diese Aussage zu erklären, lief Yuki's Vater nur zu einer alten Kommode, öffnete sie und holte einen Zettel heraus. „Ich hätte das wohl der Polizei geben müssen, aber... sie haben bereits den Abschiedsbrief beschlagnahmt. Ich wollte nicht... das letzte Erinnerungsstück an ihn verlieren.“
Er überreichte dem überraschten Ex-Kommissar den Zettel, der ihn stirnrunzelnd annahm und vorsichtig auseinander faltete. Es war ein mit dem Computer geschriebener Zettel, ohne einen Namen oder irgendwelche Hinweise auf einen Absender. Keine Hinweise, die der Polizei wirklich hätten helfen können.
„Liebe Eltern, dies soll meine letzte Nachricht an euch sein. Bitte sorgt euch nicht um mich, denn auch wenn es hier momentan blitzt und stürmt, als wollte die Welt untergehen, so habe ich doch ein festes Dach über dem Kopf gefunden. Ich bin jetzt glücklich, denn ich habe entdeckt, was es bedeutet zu leben. Ich wünsche euch allen ein schönes Leben“, las er den Brief laut vor.
„Das ist... ein Brief von Yuki, nehme ich an?“
„Ja... aber er kam ohne Absender an.“
„Dann könnte er aber auch aus Tokio stammen, oder?“
Kinoshita händigte Yuki's Vater den Zettel wieder aus. Er wollte dem Mann nicht dieses letzte Erinnerungsstück nehmen, dachte dabei selbst an das letzte Bild, dass er von seiner ehemaligen Frau noch hatte. Er war in dieser Hinsicht in der gleichen Position, wie er und es war auch absolut nicht nötig diesen Brief zu behalten.
„Die Polizei hatte sich immer auf Tokio versteift, wissen Sie? Jedes verdammte Mal, wenn ich nachgefragt habe, dann hieß es, dass er wohl nach Tokio sei. Aber schauen Sie...“
Er deutete auf eine Zeile in dem Brief.
„In der gesamten Woche bevor dieser Brief uns erreichte, hatte es in Tokio nicht einmal geregnet.“
„Haben Sie das selbst heraus gefunden?“
Der Mann nickte.
„Natürlich... oder glauben Sie wirklich, dass wir unser Kind nicht auch selbst gesucht hätten?“
„Nein... tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich erscheinen...“ Kinoshita überlegte einen Moment, ob er irgendwie die Wetterdaten von damals abrufen konnte, aber er bezweifelte, dass es im Internet noch eine Seite gab, die etwas so Triviales archivierte.
„Ich habe allerdings herausgefunden, dass es in Sapporo die gesamte Woche über geregnet hat. Und jetzt passen Sie auf... die nördliche Insel Japans, Hokkaido, war der einzige Ort Japans, auf der es in jener Woche Niederschlag gegeben hatte! Tokio war trocken geblieben, ebenso wie der Rest vom südlichen Japan!
„Aber wie ist Yuki nach Sapporo gekommen? Der erste Zug, der von Ichihara aus fuhr, ging nach Tokio...“
Er öffnete die Aktentasche und holte den alten Fahrplan heraus. „Und danach... fuhr für lange Zeit kein Zug mehr weiter, als in die umliegenden Städte.“
Er deutete mit dem Finger auf einen Nachtzug, der tatsächlich in Richtung Sapporo unterwegs gewesen war.
„Ihre These ist gut, Herr Yutaka. Aber da frage ich mich, als ehemaliger Polizist, wieso ein Jugendlicher, der unbedingt von
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