Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
ihr selbst zu gehören, nur die Anwesenheit der beiden hielt sie davon ab, sich in den weichen Dunst, der Frieden und Erlösung versprach, sinken und für immer alles hinter sich zu lassen. Die Versuchung war groß. Es wäre so einfach. Doch dann schob Lukas das Kind etwas höher, bis Cristin den geöffneten Mund an ihrer Brustwarze spürte. Sofort schlossen sich die Lippen des Kindes darum, und es begann zu saugen. Ein leichtes Ziehen in ihren Brüsten, und die Milch strömte aus ihnen heraus. Die Wärme und der kleine, feuchte Mund ließen Cristin innerlich still werden. An der Stelle, an der Elisabeths Köpfchen ruhte, wurde es warm. Mühsam streckte sie eine Hand aus und strich der Kleinen vorsichtig über den Kopf. Überrascht zog Cristin die Finger zurück, denn in ihren Fingerspitzen kribbelte es wie nach unzähligen Nadelstichen. Sie hielt inne, horchte in sich hinein. Wieder empfand sie diese merkwürdige Hitze, die Elisabeth ausstrahlte.
»Sie ist wirklich wunderschön«, hörte sie Lukas neben sich sagen.
Noch einmal streckte Cristin ihre Hand nach dem Köpfchen aus. Die Hitze begann sich von den Fingerspitzen bis in die Arme zu verbreiten und verjagte allmählich die Eiseskälte, die sie so lange gefangen gehalten hatte. Eine Ahnung stieg in ihr auf. Elisabeth war etwas Besonderes. Schlummerten in ihr etwa dieselben Kräfte, die auch sie besaß? Ihre Glieder wurden schwer. Schon fühlte sie, wie sie in den Schlaf zurückglitt. »Ich will … nicht sterben.«
»Niemand wird sterben! Niemand, hörst du?« Seine Worte klangen gedämpft, während sie tiefer und tiefer zu fallen schien, nur noch verbunden mit diesem einen Funken, der vor ihren geschlossenen Augen wuchs, bis er zu einer leuchtenden Flamme wurde und sich wie ein schützender Arm um sie legte.
10
D ie Hände tief in den Taschen seiner wollenen Hose vergraben, ging Emmerik Schimpf über das Pflaster des Salzmarktes am Clingenberghe. Seine rabenschwarze, am Hinterkopf zu einem einfachen Zopf geflochtene Mähne flatterte im frischen Wind, der vom Hafen herüberwehte. Die Farben seines Wamses, das sich über der kräftigen Brust spannte, leuchteten rot und grün, sodass die Bürger Lübecks schon von Weitem erkennen konnten, mit wem sie es zu tun hatten. Emmerik war der Scharfrichter der Stadt, berüchtigt und verachtet, ein Mann, dem man aus dem Weg ging. Es bedeutete Unheil, dem Henker zu nahe zu kommen.
Die vorher so angeregt plaudernden Menschen verstummten. Händler und Kunden starrten ihn unverhohlen an, um sich dann abzuwenden, nur die Hühner, die hier feilgeboten wurden, gackerten unbeirrt weiter. Emmerik ging auf einen der Fischhändlerstände zu.
Die Menge teilte sich.
Als er seine tiefe Stimme erhob, fuhren die Leute um ihn zusammen. »Pack mir fünf gesalzene Heringe ein. Schnell, ich habe es eilig.«
»Gewiss«, beeilte sich der Händler zu versichern und reichte dem Henker die gewünschte Ware, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen.
Ein paar Pfennige wechselten den Besitzer, und Emmerik ging weiter. Nachdem er seine Einkäufe erledigt hatte, verließ er den Marktplatz und machte sich auf den Heimweg, wobei er an gut gekleideten Damen und einfachen Lohnarbeitern vorbeikam. Dass nicht nur Bürger und Priester ihn mieden, sondern auch das einfache Volk scheu zur Seite trat, wenn es ihm in der Stadt begegnete, war er gewohnt. Im Angesicht des Todes waren sie alle gleich. Ob nun ein Getreidedieb wie der Kerl, den sie vor drei Wochen am Mühlenteich erwischt hatten, oder ein feiner, wegen Notzucht verurteilter Bürger – fast jeder, den die Büttel auf den Köpfelberg brachten, machte sich vor Angst nass. Selbst das Geräusch der unter dem Rad brechenden Knochen oder der letzte rasselnde Atemzug, wenn der Galgenstrick die Kehle des Delinquenten zuzog, waren stets dasselbe.
Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. Kinder drückten sich an den Häuserwänden entlang, als sie ihn kommen sahen. Mit den gekauften Waren auf dem Arm schlug der Scharfrichter den Weg zur Stadtmauer ein. In ihrer unmittelbaren Nähe befand sich die kleine Hütte, in der Schimpf zusammen mit seinem Sohn Baldo lebte. Seit er denken konnte, hatten er und seine Eltern hier gewohnt, streng abgeschieden von der übrigen Bevölkerung der stolzen Hansestadt, für die schon sein Vater die Drecksarbeit gemacht hatte – tollwütige Hunde zu erschlagen und auf dem Schindacker zu verscharren, Aussätzige zu vertreiben und die Verurteilten vom Leben zum Tode zu
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