Die Heidehexe - Historischer Roman
keine … Angst“, sagte er und legte schützend seinen Arm um ihre Schultern. Wer hätte es für möglich gehalten, dass die beiden einmal die Rollen tauschten?
Im Schritttempo fuhr der Karren mit der Hexe vorbei, gezogen von einem Esel, der am Halfter beidseitig von Henkersknechten mit Flüchen zum Marktplatz gezerrt wurde. Isabella hatte genügend Zeit, das Mädchen zu taxieren, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren, und das leise Gebete vor sich hinmurmelte.
„Sie ist ja noch ein Kind“, entfuhr es ihr, als sie die etwa Zwölfjährige abschätzte. Folterer hatten ihr arg zugesetzt. Das rechte Auge war violett gefärbt und derart geschwollen, dass sie es nicht zu öffnen vermochte. Blutige Striemen, über Gesicht und Hals verlaufend, zeugten davon, dass mit Peitschenhieben nicht gegeizt worden war. Eine Schulter hing schlaff herab, vermutlich das Ergebnis zahlreicher Knochenbrüche, wie überhaupt der gesamte, im Büßerhemd verhüllte Körper eine merkwürdige Haltung aufwies, die auf grausamste Marter hindeutete.
Sekundenlang kreuzten sich die Blicke der beiden Mädchen. Und Isabella erkannte in denen der Kleinen alles Leid und allen Schmerz dieser Welt vereint. Sie hat die Hölle erlebt, dachte Isabella, während Mitgefühl ihre Seele ü bermannte. Der Anblick des rundlichen, mit lustigen Sommersprossen getupften Gesichtes stand in krassem Gegensatz zu dem geschorenen Kopf und den Tränen, die ihr wie Silberperlen über die Pausbäckchen kullerten.
Das Kind öffnete den zerfetzten Mund und flüsterte in Isabellas Richtung: „Hilfe! So helft mir doch!“
Sie las es mehr von den Lippen ab, als dass sie die Worte vernahm.
Schon war der Wagen vorübergefahren, dem Marktplatz mit einer extra für dieses Ereignis aufgebauten Tribüne entgegen. Dort hatte der Hochadel der Umgebung, Medikus, Apotheker und die Gutherren mit ihren Familien Platz genommen, während das gemeine Volk Stühle, Leitern und merkwürdige, selbst gezimmerte Gerüste mitgeschleppt hatte, die es dahinter stellte, um auch einen Blick auf die Verruchte und das bald stattfindende Schauspiel zu erhaschen.
Jahrmarktstimmung herrschte auf dem Platz. Die Bäckersfrau raffte sich auf, ging mit einem Korb voll Brötchen und süßem Gebäck durch die Reihen, bot ihre Waren feil, die reißend Absatz fanden. Der Knochenhauer tat es ihr gleich, brachte frische Würste unter die hungrige, von weither angereiste Gesellschaft.
Da wollten auch die Bauern nicht zurückstehen, köpften ihre Hühner. Mägde rupften sie in Windeseile, befreiten sie von den Innereien, würzten und brieten das geschlachtete Geflügel an langen Spießen über offenem Feuer auf den nahen Höfen, bis köstlicher Bratenduft die Luft erfüllte. Die saftigen Leckerbissen wurden den eiligst zum Verkauf eingeteilten Knechten förmlich aus den Händen gerissen, und bevor gierige Münder sie zerkauten, in die Höhe gereckt, derweil man dem verzweifelten Mädchen, das auf einer erhöhten Plattform an den Brandpfahl gebunden war, unter wieherndem Gelächter zugrölte: „Schau her, Hexe! So wirst auch du geröstet. Aber bei lebendigem Leibe!“
Gelassen walteten die Henkersknechte ihres Amtes, schichteten trockene Holzscheite fachmännisch übereinander, im Kreis um das Mädchen herum. Obenauf stapelten sie Reisig und zum Schluss legten sie ein kunstvoll gefertigtes, zum spitzen Häubchen geformtes, besonders leicht entflammbares Bündel Stroh auf den Haufen.
Das Volk steigerte sich in manische Euphorie hinein. Isabella sank auf ihrem Kutschbock immer mehr in sich zusammen, betete inbrünstig, flehte den himmlischen Vater um ein Wunder an. Es half nichts. Da schrie sie in höchster Not, wie sie es bereits bei ihrer Vergewaltigung und der darauffolgenden Festnahme getan hatte: „Mutter, hilf diesem unschuldigen Geschöpf!“
Aus dem Nirgendwo tauchte Pavor auf, ließ sich im Sturzflug auf einem Ast der Eiche neben der Tribüne nieder und übertönte mit seinem Geschrei den Lärm.
„Schuldlos!“, krächzte er ein ums andere Mal. „Schuldlos! Schuldlos!“
Die Menge schaute erschreckt um sich, verstummte, um gleich darauf desto lauter zu krakeelen: „Da sitzt ein Rabe im Baum, der die Hexe verteidigt.“
„Ein Rabe, der spricht? Das gibt’s nicht.“
„Klar gibt es Raben, die menschliche Laute ausstoßen können“, beteuert Bauer Hinrichs Knecht Ottokar. „Als Bub hab ich selbst einen besessen und dressiert.“
Tumult brach aus. Einige sprachen von
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