Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
an. Seit ihrer letzten Begegnung war nun schon ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem sie immer wieder an den anderen gedacht und sich ständig gefragt hatten, was aus ihnen geworden wäre, wenn Agnes’ Gelübde nicht im Wege gestanden hätte. Sie liebten einander, waren sich aber doch so fern.
Ludolf hatte schon längst ihr trauriges und blasses Aussehen bemerkt. Sie sah noch elender aus, als sein Vater es vorhin beschrieben hatte. Agnes hatte einen Zipfel ihres Überwurfs in der Hand und zwirbelte ihn unablässig.
»Ist es so schlimm hier?«, fragte er schließlich.
Sie nickte nur.
»Ich möchte dir gerne helfen.«
»Das ist sehr lieb von dir, aber ich muss das allein durchstehen.«
Wieder breitete sich Schweigen aus.
»Warum hast du mich vorgeschlagen?«, wollte Ludolf wissen. »Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr wiedersehen, als du plötzlich aus Möllenbeck verschwunden warst.«
»Solch eine Aufgabe können wir doch nur zusammen erledigen. Das weißt du doch.«
Er nickte. Er hoffte, dass das nur eine Ausrede war. Sie konnte so etwas auch allein, schließlich war sie nicht auf den Kopf gefallen. Leise murmelte er: »Ich habe dich so vermisst.«
»Und was ist mit Susanna? Du hättest sie doch schon längst heiraten können.«
Er atmete tief durch: »Du bist mir aber lieber. Außerdem ist Susanna in Nienburg geblieben. Sie hat da jemanden geheiratet.«
Einzelne Tränen rannen Agnes über die Wangen. Die viele Arbeit im Kloster, kaum Ruhe, der andauernde Ärger, dann der heutige Vorfall, und zu allem Überfluss stand da auch wieder dieser Kerl vor ihr, der sie mit seinem dämlichen Hundeblick anhimmelte. Egal was sie auch sagte oder tat, wie sehr sie ihn auch reizte, nichts konnte ihn davon abhalten, ihr hinterherzulaufen. Früher, als sie noch Kinder waren, war es viel einfacher gewesen. Sie hatten sich einfach nur gehasst. Aber nun war alles viel komplizierter.
Doch nun konnte sich Agnes nicht mehr zurückhalten. Sie stürzte auf Ludolf zu und warf sich in seine Arme. Sie brauchte jemanden, der sie festhielt und sie tröstete, der ihr versicherte, wie sehr sie geliebt wurde. All das machte er jetzt gerne. Sie weinte in Ludolfs Armen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die beiden hielten einander fest umschlungen.
Nach einiger Zeit hatte sich Agnes wieder beruhigt. Langsam löste sie sich von Ludolf, um sich die Nase mit einem kleinen Leinentuch zu putzen. Zärtlich trocknete er ihre letzten Tränen mit seinem Ärmel. Endlich huschte wieder ein kleines Lächeln über ihr Gesicht.
»Ich habe dich vollgeheult«, sagte sie leise und wischte über seine Jacke.
»Nicht so schlimm. Hauptsache, es geht dir besser.«
Agnes nickte: »Gut, dass du da bist. Wir sollten morgen frisch loslegen. Ich habe in letzter Zeit wenig Schlaf bekommen und will mich heute Nacht wieder einmal richtig erholen. Nach dem Vorfall im Kloster heute Mittag bin ich zu meinem Onkel gelaufen. Dort werde ich auch die nächsten Tage bleiben.«
»Soll ich dich wieder zu deinem Onkel bringen?«
Agnes lächelte dankbar. Wenn Ludolf wollte, konnte er richtig lieb sein. Außer, er war grundlos eifersüchtig oder hatte sich geirrt und wollte das nicht zugeben. »Lass man lieber. Für heute habe ich mir genug Probleme aufgehalst. Das reicht. Wir sehen uns morgen.«
Rasch lehnte sie sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Du kratzt. Du solltest dir mal wieder deine Bartstoppeln abrasieren.«
»Hätte ich gewusst, dass du mich küsst, hätte ich mich extra noch hübsch gemacht.«
Sie kicherte. »Du hübsch? Mich gibt es, weil Gott einen Blick für Schönheit hat, und dich, weil er einen Sinn für Humor hat.«
Kichernd drehte sie sich um und ging zur Tür. Sprachlos und verwirrt blieb Ludolf zurück. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm schelmisch zu. »Bis morgen.«
Bei den Nachbarn
Donnerstag, 9.8.1386
Agnes und Ludolf warteten schon geraume Zeit ungeduldig in der Morgensonne vor dem Rathaus. Ulrich von Engern war immer noch nicht gekommen. Die dritte Stunde 10 war bald zu Ende. So konnten die beiden nur gelangweilt dem geschäftigen Treiben auf dem Markt zusehen. Viel lieber wären sie schon längst losgezogen, um mit den Nachforschungen zu beginnen. Aber was tat man nicht alles, um nicht unnötigerweise Ärger heraufzubeschwören.
Ludolf hatte Agnes vorhin beim Onkel abgeholt. Heute Morgen sah sie schon erholter aus, frischer. Ihre Augen glänzten vor Freude bei der Begrüßung. Die
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