Die Herzen aller Mädchen
geübt hatte: Atmen! Autoritär sein! Siezen! Namen nennen! Beziehungen herstellen! »Tun Sie ihr nichts!«
Es knisterte. »Frau Boll!«
»Ja.«
»Sie hatten Unrecht.«
»Ach wirklich?«
»Ich hab den Ovid nicht.« Ballier kicherte. »Glauben Sie’s ruhig. Das ist mein Abschiedsgeschenk an Gregor und Sie. An die Liebe.«
»Frau Ballier!«, rief Bettina lehrbuchgemäß. »Sprechen Sie mit mir! Was war das für ein Schuss?«
Doch die Verbindung war tot. Einen Moment saß Bettina ganz still. Dann tippte sie eine Nummer in ihr Handy, fluchte, löschte sie, tippte eine andere, fluchte wieder und wartete und wünschte, sie hätte einen echten Dienstwagen mit Funk. Und drei Telefone.
* * *
Als es an Gregors Tür Sturm klingelte, hatte er nicht mal drei Stunden geschlafen. Er hörte nichts und wachte nicht auf. Erst als sich jemand an seiner Tür zu schaffen machte und schließlich Menschen in seinem dunklen Wohnzimmer standen, schwarz gekleidete, dick bepackte, bewaffnete Gestalten, da kam er zu sich. Er roch das Leder seiner Couch, doch wusste nicht, wo er war. Er spürte, dass er im Schlaf gefroren hatte. Er rappelte sich hoch und Gesichter richteten sich auf ihn. Vermutlich auch Waffen. Er stöhnte. In seinem Mund war ein fader Geschmack. »Wer sind Sie?«, fragte er.
»Sind Sie Gregor Krampe?«, war die Gegenfrage.
Brazil, dachte er.
Dann musste er antworten und aufstehen und mitkommen.
* * *
Bettina schaffte es nicht nach Hause, obwohl sie schon in Sichtweite war. Doch nun saß sie in ihrem Taunus fest und unterstützte die Zentrale bei der Suche nach Syra und ihrem Auto. Und dann, als man das Ausmaß der Ereignisse erfasste, musste sie sofort persönlich in Frankfurt antanzen und ihr Telefonat mit Syra und Ballier Wort für Wort wiedergeben. Zehn Mal. Als sie um fünf Uhr früh heimkam, war sie so fertig, dass sie sich in die Küche setzte und heulte.
Syras Audi hatte ordentlich auf dem Seitenstreifen der A 5 gestanden, unbeleuchtet, mit verschlossenen Türen, das Funkgerät ausgeschaltet. Den Autoschlüssel fand man später im Gras. Kriminalrätin Margarete Syra, die eine körperlich sehr kleine und schlanke Person war, hatte zusammengerollt im Fußraum des Fahrerplatzes neben ihrer Pistole gelegen. Eine Decke war über sie gebreitet gewesen. Nicht um sie zu wärmen, konstatierte der Beamte, der sie fand, sondern eher, um sie den Blicken spontaner Helfer zu entziehen. Ihr Zustand war sehr kritisch. Ihr war aus nächster Nähe mit ihrer eigenen Walther PPK in die Brust geschossen worden. Die Kugel hatte vermutlich die Lunge gestreift und verschiedene Organversagen ausgelöst. Sie starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Von der flüchtigen Ballier und ihrem Hund fand man nur eine durchgebissene Leine. {1} Die beiden hatten es offenbar geschafft, gemeinsam die Autobahn zu überqueren, was die eingesetzten Polizeihundeführer vor arge Schwierigkeiten stellte und Ballier einen großen Vorsprung verschaffte. Ihre Spur führte bis in ein Waldstück, wo an einem Baum die Hundeleine hing. Von dort an wurde sie undeutlicher und brachte die Suchenden zu einem Bach, wo sie sich ganz verlor.
Am Flughafen Frankfurt indessen konnte trotz einer Suchmeldung, eines Polizeiaufgebots und verstärkter Kontrollen an Türen und Schaltern keine verdächtige Person mit Dackel aufgegriffen werden. Ein Flugticket auf den Namen Ballier für den Abendflug der Swiss International Air Lines nach Genf verfiel ungenutzt. Und die stark geschminkte, leicht transig wirkende Olga Franziska Schanzkowska, die gegen sechs Uhr früh in knallrotem Grenadiermantel, Lackstiefeln und Pelzkappe im Taxi vorfuhr und den lange gebuchten Rückflug nach Moskau antrat, wurde nicht mal nach dem Inhalt der sechs hübsch verpackten Buchgeschenke gefragt, die in ihrer teuren schweinsledernen Reisetasche neben der viel zu frivolen Unterwäsche lagen. Wieso auch. Standen doch die Namen ihrer Enkel darauf: Michail, Alexej, Olga, Tatjana, Maria und Anastasia.
Elf
Als Bettina wieder wach war, das war am Dienstag, wurde sie von Jaecklein gebeten, ihm beim Verhör des Untersuchungshäftlings Krampe zu assistieren. Es war nicht wirklich eine Bitte, jedenfalls keine, die man abschlagen konnte. Und Jaecklein, das sah Bettina schon an der Miene, die er ihr zur Begrüßung entgegenhielt, war verärgert. Nein, mehr als das. Er war schockiert und traurig, und er hatte sie gefressen. Die Protokolle habe er ausführlich gelesen, sagte er. Dass er Bettina für
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