Die Hudson Saga 03 - Dunkle Träume
wissen.
»Nur eine Weile nach draußen. Ich möchte allein sein«, betonte ich und schloss ihr die Tür vor der Nase. Ich rollte die Rampe hinunter, drehte dann um und fuhr über die Auffahrt zum See. Am Fuß des Pfades blieb ich stehen, schaute auf das Wasser hinunter und dachte an Roy, der jetzt wieder in einem
Militärgefängnis saß und fast so frustriert war wie ich, weil er ebenfalls in der Falle saß.
Natürlich hätte mir klar sein müssen, dass er so etwas tun würde. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, als ich ihm jenen Brief schrieb? Kannte ich ihn nicht gut genug, um zu wissen, dass er nur daran denken würde, zu mir zu kommen, mich als wichtiger als alles andere betrachten würde? Er dachte immer zuerst an mich.
Ich hätte zuerst an ihn denken und nicht so eifrig darauf bedacht sein sollen, allen meine Tragödie mitzuteilen. Ich war nur auf der Suche nach Mitgefühl. Es war meine Schuld, ganz alleine meine Schuld. Ich hasste, was mir widerfahren war.
Ich hasste es, in diesem Stuhl zu sitzen. Ich wünschte mich Jahre zurück, als ich noch in dem Wohnungsbauprojekt in Washington lebte. Wir dachten immer, alles sei so schrecklich, aber wir waren besser dran. Ich würde hundert große Häuser und hundert teure Autos und all das Geld dagegen eintauschen, wenn ich aufstehen und weggehen könnte.
»Mama!«, schrie ich. »Schau, was uns passiert ist und was immer noch mit uns geschieht!«
Meine Stimme erschallte über dem See und hallte in den Bäumen wider. Ich sah, wie eine Krähe sich von einem abgestorbenen Ast erhob und in die Dunkelheit flüchtete.
Gut, dachte ich. Jedes Lebewesen sollte vor mir fliehen. Selbst ich sollte vor mir selbst fliehen.
Meine Arme waren plötzlich elektrisiert von neuer Kraft. Ich packte die Räder meines Rollstuhls fest und drehte sie, bewegte den Rollstuhl vorwärts, vom Asphalt herunter, auf den Kiesweg, der zum Bootssteg und zum See führte. Der Stuhl holperte und die Räder verfingen sich in einer Furche, dass ich abrupt stehen blieb.Aber ich lehnte mich zurück, drückte fester und hievte den Stuhl hoch und weiter vorwärts. Tränen strömten mir über das Gesicht. Meine Hände schmerzten.
Unterwegs nahm ich Fahrt auf und brauchte nicht länger zu schieben. Der Stuhl rollte vorwärts, aber er stieß gegen einen Stein und wirbelte herum. Langsam neigte er sich. Ich versuchte ihn im Gleichgewicht zu halten, aber mein Gewicht verlagerte sich zu schnell und ich stürzte mit ihm um. Mir blieb kaum noch Zeit, einen einzigen Schrei auszustoßen. Ich fiel auf weiches Gras. Das rechte Rad drehte sich immer weiter. Ich stürzte nicht ganz aus dem Wagen, lag aber ganz verdreht.
Stunden schienen zu vergehen, bis ich genug Schwung aufbrachte, um mich mit meinem Bein abzustützen und den Wagen wieder aufzurichten. Schließlich gelang es mir. Ich saß einfach da, atmete schwer und schwitzte so stark, dass mir die Haarsträhnen an der Stirn klebten.
Die Sonne war hinter die Baumlinie gesunken. Die Dunkelheit hüllte die umgebenden Wälder in Schatten. Sterne tauchten auf, der See verwandelte sich in eine tintenblaue und graue Fläche.
Ich hatte mich bei dem Sturz nur erschreckt. Weder hatte ich Abschürfungen, noch blutete ich, noch hatte ich mir an irgendeinem Körperteil starke Prellungen zugezogen. Aber auf meinen Armen und auf der Kleidung waren Matsch und Dreck. Sobald meine Atmung wieder regelmäßig wurde, spürte ich, wie sich derselbe dunkelrote Ball aus Frust und Wut wieder in mir aufblähte. Nicht einmal das konnte ich richtig. Der rote Ball schwoll an, bis er mir auf das Herz presste und es zum Klopfen brachte.
In welcher Patsche steckte ich! Wo war denn die Unabhängigkeit, die ich entwickeln sollte? Ich werde immer nur ein bemitleidenswerter Krüppel sein, der hier auf der Erde blieb, um auch noch anderen das Leben zur Hölle zu machen.
Ich rollte mich wieder vorwärts, diesmal vorsichtiger, um den Rollstuhl davor zu bewahren, zu schnell in eine Richtung zu schießen. Die Dunkelheit senkte sich viel schneller um mich herab, als ich gedacht hätte. Ich musste mich anstrengen, um genau zu sehen, wo ich hinfuhr. Plötzlich spürte ich einen entsetzlich schmerzhaften Krampf in der Hüfte. Mir blieb die Luft weg, und ich musste die Räder loslassen.
Wieder nahm der Rollstuhl Fahrt auf. Ich hielt mich an den Seiten fest, schloss die Augen und befahl mir, mich zu entspannen.
Ich steuerte geradewegs auf den Bootssteg zu. Der Rollstuhl holperte heftig und stieß dann
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