Die Katze
Vielleicht lag es daran, dass er damals mit zwei Jahren noch zu jung war, die Geschehnisse zu begreifen. Ein paar Tage hatte er weinend nach seiner Mama gerufen und war dann unbekümmert in die Arme der Frau gekrabbelt, die ihr Vater engagiert hatte, um den Platz ihrer Mutter einzunehmen. Dort war er als bedürftiges Kind mehr oder weniger geblieben, bis die Frau zwei Jahre später nach einem Streit über ihre Bezahlung gekündigt hatte. Auch sie war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Danach hatte es eine Folge von Haushälterinnen gegeben, so gesichtslos wie die Bronzestatuen in Glens Club. Keine war lange geblieben, dafür hatte die unnachgiebige Kälte ihres Vaters gesorgt. »Sie macht sich Sorgen deinetwegen«, erklärte Charley ihrem Bruder jetzt, während sie an ihre eigenen Kinder dachte und sich fragte wie jedes Mal, wenn sie zu lange über ihre Mutter nachdachte, wie die Frau sie einfach hatte verlassen können.
»Ich wollte euch mitnehmen«, hatte ihre Mutter versucht zu erklären, als sie vor zwei Jahren in Charleys Leben zurückgekehrt
war. »Aber ich wusste, dass euer Vater nie zulassen würde, dass ich euch mit außer Landes nehme. Und ich musste weggehen. Wenn ich noch länger in diesem Haus geblieben wäre, wäre ich gestorben.«
»Also hast du stattdessen uns zum Sterben zurückgelassen«, erwiderte Charley, die sie nicht so leicht davonkommen lassen wollte.
»Aber schau dich doch an«, gab ihre Mutter prompt zurück. »Du hast dich prächtig entwickelt. All meine Mädchen haben sich prächtig entwickelt.«
»Und Bram? Was ist mit ihm?«
Auf diese Frage hatte Elizabeth Webb keine Antwort parat.
»Bram«, sagte Charley. »Bram, wach auf. Zeit, nach Hause zu fahren.«
Sie roch den Kaffee, noch bevor sie sich umdrehte und Glen hinter sich stehen sah. »Machen Sie Fortschritte?«, fragte er im Türrahmen stehend, die Hand nach ihr ausgestreckt.
Sie schüttelte den Kopf. »Riecht köstlich«, sagte sie und nahm den dampfenden Becher entgegen.
»Sie haben Glück. Paul hat gerade eine frische Kanne aufgebrüht.«
Charley nahm langsam einen großen Schluck. »Sehr gut. Vielen Dank.«
»Gern geschehen.« Er nahm seinen Platz auf dem anderen Sofa wieder ein.
»Trinken Sie keinen?«
»Ich bin kein großer Kaffeetrinker.«
»Wirklich? Wieso nicht?«
»Ich habe das Gefühl, dass sich das Koffein schlecht mit dem ganzen Kokain in meinem Blut verträgt«, sagte er mit todernster Miene, die Charley einen Moment lang stutzen ließ. »Das war ein Witz«, stellte er eilig klar, »offensichtlich kein besonders komischer. Vor allem unter den Umständen.« Er warf einen Blick auf ihren Bruder.
»Glauben Sie, er kokst?«
»Ich glaube, dass er höllische Kopfschmerzen hat, wenn er aufwacht«, sagte Glen, ohne ihre Frage zu beantworten. »Was hat er überhaupt für ein Problem?«
Charley trank noch einen Schluck Kaffee, während am Himmel ein weiterer Blitz zuckte. »Glauben Sie wirklich, ich würde mit Ihnen die Probleme meines Bruders besprechen?«
»Probleme?«, wiederholte Glen mit Betonung auf der Pluralendung.
»Das war einfach so dahingesagt.«
»Oder ein Freud’scher Versprecher.«
»Mein Bruder ist schon ein bisschen eine verlorene Seele«, gab Charley begleitet von neuem Donnergrollen zu.
»Und wie lange ist er schon vom rechten Weg abgekommen?«
Charley hätte beinahe gelächelt. Offenbar hatte der »Möchtegern-Gauner« eine poetische Ader. »Darüber möchte ich lieber nicht reden«, sagte sie, obwohl sie in Wahrheit plötzlich das verzweifelte Bedürfnis hatte, genau das zu tun. Er ist schon verdreht, solange ich denken kann, wollte sie sagen . Er trinkt seit seinem fünfzehnten Lebensjahr und nimmt auch schon mindestens so lange Drogen. Als Teenager ist er von jeder Privatschule in Connecticut geflogen. Dann hat er sein Studium an der Brown University im ersten Jahr abgebrochen und ist zu mir in den Süden nach Florida gezogen. Er belegt Abendkurse an der University of Miami, bummelt herum, besucht ein sinnloses Seminar nach dem anderen, um zur schriftlichen Prüfung dann meist nicht zu erscheinen. Er lebt in einer möblierten Wohnung in einem hässlichen Viertel der Stadt, arbeitet so wenig wie möglich und nur, wenn die Einnahmen aus der kleinen Erbschaft nicht reichen, die unsere Großmutter väterlicherseits uns hinterlassen und die mein geliebter Vater als Treuhänder ihres Vermögens in sparsamen monatlichen Raten auszuzahlen beschlossen hat . »Wahrscheinlich eine der
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