Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
nicht gut.«
Er erhob sich, küsste seine Schwester auf die Wange und rollte sich in einer der Kojen zusammen. Wenn Nolan nicht dreißig Knüppelschläge eingesteckt hätte, ohne sich zu beklagen, hätte Amanon gedacht, dass der Lorelier das Gesicht in den Händen vergrub und weinte.
»Ich kippe auch gleich um vor Müdigkeit«, sagte Keb und gähnte lautstark.
»Gut!«, beschied Eryne. »Lasst uns zu Bett gehen! Amanon, ich habe eine Bitte: Würdet Ihr mir das Tagebuch Eurer Mutter leihen? Ich fürchte, dass ich noch nicht schlafen kann, und vielleicht werde ich Euch eher glauben, wenn ich die Geschichte schwarz auf weiß lese.«
Amanon zögerte eine Weile. Für ihn war das Testament seiner Mutter so kostbar, dass er den Gedanken, sich von ihm zu trennen, kaum ertrug. Aber war das Tagebuch nicht das Vermächtnis all ihrer Vorfahren?
Corenn hatte es nicht für ihn allein verfasst, und sie enthüllte darin auch nichts Persönliches.
»Lasst Eure Tür offen«, sagte er. »Ich bringe es Euch gleich vorbei.«
Zufrieden wünschte Eryne ihren Gefährten eine gute Nacht und verschwand mit einem Kerzenleuchter in der Hand in ihrer Kabine. Keb war bereits in eine der oberen Kojen geklettert und begann bald zu schnarchen. Die beiden Cousins blieben am Tisch zurück.
»Etwas hast du vergessen zu erzählen«, murmelte Cael. »Du sagtest heute Morgen, dass Tante Corenn in ihrem Tagebuch von mir spricht. Es hörte sich wichtig an.«
Amanon empfand tiefe Zuneigung für den Jungen, und es widerstrebte ihm, Cael anzulügen. Aber er hatte nicht den Mut und auch kein Recht dazu, mitten in der Nacht weitere schmerzliche Enthüllungen zu machen. Sie sprachen besser ein anderes Mal darüber. Bei Tag, im hellen Sonnenlicht.
»Psst!«, sagte er deshalb nur und zwinkerte seinem Cousin verschwörerisch zu. Er schlug das Tagebuch seiner Mutter auf, löste das letzte Heft vom Einband und steckte es sich in die Tasche. Man sah kaum, dass es fehlte.
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er, als er zu Erynes Kabine ging. »Alles wird gut!«
Er selbst fand seinen Ton wenig überzeugend. Cael war kein Dummkopf. Natürlich machte sich der Junge Sorgen, und er hatte allen Grund dazu.
Außer Keb, der so laut schnarchte, dass die anderen die Enge des Schiffs verfluchten, schlief niemand in dieser Nacht länger als einen Dekant.
Vor allem nicht, nachdem die Kerzen heruntergebrannt waren.
Als Eryne mit Amanon und Cael durch die Straßen Lorelias lief, hatte sie das Gefühl, die Stadt nicht wiederzuerkennen. Immer wieder stolperte sie über unebene Pflastersteine. Bislang hatte sie die ärmeren Viertel höchstens ab und zu in der Kutsche durchquert, und zu Fuß hatte sie einen völlig anderen Blick auf die Stadt. In einer einzigen grauenvollen Nacht war ihre ganze Welt ins Wanken geraten.
Das Tagebuch, das sie im flackernden Licht einer Kerze gelesen hatte, hatte sie tiefer erschüttert als Amanons Bericht. Corenn schrieb klar und verständlich, und es bestand keinerlei Zweifel an ihrer geistigen Gesundheit. Ihre Geschichte enthielt keine unnötigen Abschweifungen, überflüssigen Bemerkungen oder Übertreibungen. Die Ratsfrau schilderte nur, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte, sonst nichts. Ihre Gefühle verschwieg sie dabei zwar nicht, ganz im Gegenteil, doch man spürte, dass sie sich bemühte, so genau wie möglich zu sein. Das machte ihre Erzählung überzeugend und unheimlich zugleich.
In der Finsternis ihrer engen Kabine hatte sich Eryne mehr gefürchtet als je zuvor in ihrem Leben. Jede Seite des Tagebuchs hatte ihr entsetzliche Angst eingejagt. Als sich die anderen am Morgen beschwerten, unruhig geschlafen zu haben, konnte sie nur lachen. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan! Verzweifelt hatte Eryne auf die ersten Sonnenstrahlen gewartet und sich erst aus ihrer Koje gewagt, als sie Keb in der Kajüte herumpoltern hörte.
Beim Frühstück waren alle schweigsam gewesen, vor allem im Vergleich zum Abend zuvor. Nolan hatte tiefe Ringe unter den Augen und fühlte sich immer noch wie gerädert, weshalb er nicht zum Platz der Büßer mitkommen würde. Keb verkündete, ebenfalls auf dem Schiff bleiben zu wollen. Zur allgemeinen Überraschung erklärte sich Eryne bereit, Amanon und Cael zu begleiten. Nach ihrer nächtlichen Lektüre musste sie unbedingt auf andere Gedanken kommen, wollte sich vor dem Aufbruch allerdings noch eine Weile ausruhen.
Einen knappen Dekant lang hatte sie sich unruhig in ihrer Koje hin- und
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