Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
kleinen Kräutergarten hinaus, der so spät im Herbst allerdings keinen reizvollen Anblick mehr bot. Im Erdgeschoss befand sich das Speisezimmer; es hatte große Fenster, die auf die Straße blickten. Im ersten Stock waren der Salon, das Wohnzimmer und die Bibliothek und im zweiten Stock lagen die Schlaf- und Ankleidezimmer des Herrn und der Herrin. Darüber befanden sich das Kinderzimmer und zwei weitere Schlafzimmer und ganz oben die Zimmer der Dienstboten. Seit sie hier war, hatte Sally ständig Appetit und schon öfter mitbekommen, dass die Köchin sich darüber beklagte, wie viel sie aß. Das liegt nicht an mir , dachte sie, der Kleine trinkt viel und dazu die viele Bewegung .
Sie legte das schlafende Kind in die Wiege und machte sich auf die Suche nach einer weiteren Decke, wie die Herrin ihr befohlen hatte. Dieses Kind besaß schon jetzt mehr, als Sally in ihrem ganzen Leben ihr Eigen genannt hatte. Sie wühlte sich zuerst durch den Schrank und ging dann zu der Zedernholztruhe hinter dem Sofa. Hier fand sie eine dicke, karierte Wolldecke und eine kleine Decke aus Seidensatin. Aus purer Freude an den edlen Materialien ließ sie ihre Hände über die Stoffe gleiten. Die Wolldecke war kratzig und sehr dick, die elfenbeinfarbene Seidendecke fühlte sich kühl an. Unter beiden Decken würde das arme Kind schwitzen.
Sie suchte weiter. Ganz unten fand sie eine kleine zusammengerollte Decke. Neugierig zog sie sie hervor und entfaltete sie. Das Material war rau – ungebleichte Baumwolle wie die Decken und Servietten, die die Mädchen in Milkweed Manor bestickten. Sie war überrascht, in dieser Schatztruhe etwas so Gewöhnliches zu finden. War die Decke vielleicht das Geschenk einer armen Verwandten, das man ganz unten in die Truhe gelegt hatte, damit es Edmund Harris' zarte Haut nie berührte? Sie war beinahe selbst verlegen für diese arme Person, wer immer sie sein mochte.
Doch dann fiel das Lampenlicht auf eine Saumkante der Decke und Sallys Finger spürten eine ungewöhnliche Stickerei. Sie hob sie hoch und betrachtete sie genauer. Sie kannte diese Stickerei, die Blumen und Samen. Das war Charlottes Werk. Und war da, in dem einen Blumenblatt, nicht ihr Monogramm, ein C, zu erkennen? Doch wie war Charlottes Decke … die sie für ihr eigenes Kind gestickt hatte … hierher gekommen, ganz unten in Lady Katherines Zedernholztruhe?
Die Tür öffnete sich knarrend und Sally schrak wieder hoch. Sie war eingenickt, während sie Edmund schaukelte. Lady Katherine und Mr Harris kamen ins Kinderzimmer, um sich von ihrem Sohn zu verabschieden.
»Was ist das denn?« Der Tadel in der Stimme war unüberhörbar. Katherine stand neben dem Stuhl und schaute auf Sally herunter.
»Was?« Sally schaute erst an sich selbst hinunter und dann auf Edmund, der in ihren Armen schlief.
»Das schmutzige Ding, in das du ihn gewickelt hast.«
»Das ist nicht schmutzig, M'lady, nur einfach.«
»Wo kommt das her?«
Mr Harris trat näher und blickte rasch von der Decke auf Sally, dann zu seiner Frau und wieder zurück zu Sally. Sein Gesicht war traurig.
»Vielleicht hat die Amme es mitgebracht«, meinte er.
»Nein, Sir, ich habe es in der Truhe gefunden.«
Der Vater zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es aus dem Hospital. Es war kalt in jener Nacht und ich glaube, der Arzt hat Edmund für die Heimfahrt in eine oder zwei Extra-Decken gepackt.«
»Das Hospital? Nun gut, wickle ihn wieder aus. Wer weiß, wie schmutzig das Ding ist.«
»Es wurde ganz bestimmt gewaschen und gebügelt«, versicherte Mr Harris ihr. »Während deiner Erholungszeit.«
»Trotzdem … wozu haben wir die vielen schönen Decken.« Katherine ging selbst zu der Zedernholztruhe und hob den Deckel hoch. »Nimm diese hier.«
»Ja, M'lady.« Sally nickte.
Lady Katherine hatte die elfenbeinfarbene Satindecke gewählt und als Sally merkte, dass sie die Decke jetzt gleich wechseln sollte, wickelte sie das Baby aus. Lady Katherine gab ihr die Satindecke. Sie nahm die bestickte Baumwolldecke mit spitzen Fingern in Empfang und hielt sie so weit wie möglich von sich weg. Doch plötzlich runzelte sie die Stirn und betrachtete sie näher.
»Das ist ja seltsam …«
»Was ist denn?«, fragte Mr Harris.
»Diese Stickerei. Ich habe schon einmal eine ganz ähnliche gesehen.«
»Für mich sieht jede Stickerei gleich aus. Komm jetzt – es ist schon spät.«
»Ja. Entsorge das bitte für mich.«
»Ja, M'lady.«
Sally legte das Ärgernis zusammen, aber sie brachte es
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