Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
lass uns weiterlesen. Suchen wir noch eine Stelle mit Stilbruch, irgendetwas, was die Kommentatoren nie überzeugend haben auslegen können.«
»Und vielleicht stellen wir fest, dass es erneut eine Entsprechung zu Ereignissen der letzten Jahre gibt.«
Er nickte und wandte sich dem Text zu:
»
Et cum aperuisset quintum sigillum
…« [9]
Es dauerte nicht lange, bis Alanna ihn erneut unterbrach.
»Liam, wenn du in die Zukunft blicken könntest und beschließen würdest, deine Visionen aufzuschreiben, welches Tempus würdest du dann verwenden?«
»Futur natürlich.«
»Eben. Der Presbyter dagegen verwendet die Vergangenheit. Ist das nicht merkwürdig?«
»Nicht unbedingt.«
»Eben doch. Aber das ist nicht alles. Der Presbyter verwendet die Vergangenheit, aber nicht immer: Zum Beispiel steht der Passus mit dem Öl und dem Wein im Präsens. Alles in der Vergangenheitsform und dann, plötzlich, ein Sprung ins Präsens. Ist das nicht eigenartig?«
»Doch«, gab er zu. »Das ist es.«
»Das könnte der Schlüssel sein, Liam, die richtige Fährte. Suchen wir alle Stellen im Präsens und schauen wir, was wir finden. Womöglich liegt genau darin der Originaltext der Apokalypse verborgen.«
»Hmm … das ist eine faszinierende Hypothese. Lass uns nachdenken. Also: Wir haben den Presbyter, eine Art Sekretärvon Johannes, der vom Originaltext des Propheten ausgeht. Dann begräbt er den unter einer Menge Geschichten, die in der Tradition seiner Zeit bereits bekannt waren, wozu er, was logisch ist, die Vergangenheitsform benutzt. Aber wenn er zum Punkt kommt, zum echten Text von Johannes, dann springt er ins Präsens, was die Zeitform der Prophezeiung schlechthin ist. Das Verb des Seins, das nie gewesen ist noch sein wird, sondern immer IST. wie der Heilige Augustinus lehrt.«
Alanna sah ihn durchdringend, doch mit einer leisen Spur des Bedauerns im Blick an. »Es gibt ein Problem. Das ist eine faszinierende Theorie, aber im Moment können wir sie nicht mit Sicherheit überprüfen.«
»Und warum?«
»Weil wir mit der lateinischen Version arbeiten, und bei der Übersetzung können die Zeitformen der Verben verändert worden sein. Wenn Johannes’ Muttersprache das Griechische war, dann hilft uns dieser Schinken nicht weiter!«
Liam war einen Moment lang ratlos. Dann sprang er plötzlich auf, wobei er den Stuhl umschmiss. Er schnappte nach seinem Jackett und fing an, in der Innentasche herumzukramen. »Ich Depp …«, murmelte er.
Er zog das Bändchen von Molteni heraus und zeigte es Alanna. Dabei strahlte er, als hätte er einen Fünfhundert-Euro-Schein auf der Straße gefunden.
»Text auf Italienisch, daneben das griechische Original!«, erklärte er.
Dann hob er den Stuhl wieder auf, setzte sich und fing an, das Buch durchzublättern. Hektisch suchte er nach der Stelle. Alanna stellte sich gespannt hinter ihn, um ebenfalls den griechischen Text zu überfliegen. Sie fanden fast sofort, wonach sie suchten.
»Bravo, Alanna, großartig!«, lobte Liam sie. »Der Zeitsprung in den Verben findet sich auch im Griechischen!« Er war sichtlich erregt.
Sie kehrte mit zufriedener Miene an ihren Platz zurück: »Das klingt absurd, aber ich habe fast vergessen, dass wir hier in Gefangenschaft sind. Los, weiter geht’s. Suchen wir nach dem Rest der Prophezeiung.«
Aber Liam rührte sich nicht, er saß da wie versteinert.
Alanna biss sich auf die Lippe. Sie meinte, ihr Hinweis auf die Gefangenschaft habe ihn unpassenderweise wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. »Was ist los, Liam, stimmt etwas nicht?«, drang sie vorsichtig in ihn.
Es schien, als hörte er sie gar nicht, wäre gar nicht da. »Andrea wusste es«, murmelte er schließlich. »Er hat es mir auf das Titelblatt geschrieben.«
»Was?«
Liam schlug das Buch bei der Widmung von Molteni auf und reichte es Alanna.
»Die Zeit ist gekommen: Das Wort Gottes ist in der Gegenwart«, las sie.
»Verstehst du, Alanna? Er hat mir den richtigen Weg gewiesen. Das Wort des Propheten muss in der Gegenwart gesucht werden, in der Gegenwartsform der Verben. Das Wort Gottes ist in der Gegenwart«, wiederholte er.
»Das ist aber seltsam«, bemerkte sie. »Nach dem, was Ossius sagt, kennt kein Meister den Inhalt der Prophezeiung. Und Molteni selbst hat zugegeben, dass er die Daten kennt, den Jüngsten Tag eingeschlossen, aber nicht das, was in den Schriftrollen steht.«
Liam sah sie verblüfft an. »Du hast recht! Wie erklärt sich das?«
Sie überlegte
Weitere Kostenlose Bücher