Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
war, es so lange zu verheimlichen.
»Ich habe es unter Kontrolle«, sagte er leise. »Nicht umgekehrt.«
»Auch als …«
»Auch als Tier? Ja.«
»Hast du dich gestern Nacht verwandelt?«
»Nein, ich hatte Angst, dass unsere eigenen Leute auf mich schießen würden.«
So wäre es wahrscheinlich auch gekommen. Chris hatte verdammt viel Glück gehabt, in dem ganzen Durcheinander nicht erschossen worden zu sein. Rosa fühlte sich seltsam, und ihr wurde übel, als sie sich vorstellte, wie Chris als blutiger Haufen am Boden lag. Zur Hölle, vielleicht hatte sie ihm sogar das Leben gerettet, als sie ihn aus der Stadt gejagt hatte.
»Was bist du?« Verdammt sonderbar, aber es kam ihr wie eine vernünftige Frage vor.
»Ein Vielfraß.«
Rosa rieb sich die Augen. Ex musste wissen, dass sie nach diesem Geständnis das Recht gehabt hätte, auch ihn zu verbannen. Aber er wirkte nicht besorgt. Stattdessen verschränkte er abermals die Arme und sah sie ruhig an. Nichts an ihm war anders als zuvor. Er hatte nicht plötzlich etwas Teuflisches an sich, und ihm waren auch keine Hörner aus der Stirn gewachsen. Er war immer noch Ex. Vielleicht erklärte ihre lange Freundschaft, warum sie keine Angst hatte. Es fiel ihr leichter, daran zu glauben, dass er in der Lage war, seinen Makel zu beherrschen.
Aber vielleicht war das der falsche Ausdruck. Vielleicht war es nur eine Fähigkeit wie die, zu schießen oder zu nähen.
Vielleicht.
Sie konnte einfach kein Monster in ihm sehen. Es half, dass sie ihn nie in veränderter Gestalt gesehen und somit auch nie beobachtet hatte, wie er einem Menschen die Kehle herausriss. Dieses neue Wissen war nur eine Vorstellung, die sie auf abstrakter Ebene verstehen musste – kein brutaler, unabänderlicher Beweis.
»Wann ist es zum ersten Mal passiert?« Eine Frage nach der Vergangenheit zu stellen verstieß gegen die wichtigste Regel in Valle.
»Nicht lange nach dem Wandel. Ich … habe meine Frau und meinen Sohn verloren. Erinnerst du dich an die gescheiterten Verwandlungen in der Anfangszeit?«
Rosa nickte ruckartig. Ja, sie erinnerte sich an verzerrte Körper und halbanimalische Leichen. Jene Monate waren ein Albtraum gewesen. Damals hatte sie in der Furcht gelebt, dass dies auch ihrem Bruder zustoßen könnte. So viele gescheiterte Gestaltwandler hatten tot auf den Straßen gelegen. Der plötzliche Magiefluss, der über die Welt hinweggeströmt war, hatte ihre Anatomie zerfetzt. Damals hatte sie Mitleid mit ihnen gehabt, aber Josés Schicksal hatte ihre Überzeugungen verändert.
» Sí . Ich erinnere mich.«
»Mir ist es gelungen, mich zu verwandeln. Sie sind beide gestorben, als sie versucht haben …« Er brach ab, wandte den Kopf und blickte in die Wüste hinaus. Die Landschaft hob und senkte sich in zerklüfteten Wellen. Winzige Schattenflecken dort, wo Saguarokakteen wuchsen, unterbrachen das einheitliche Bild der Nacht.
Instinktiv fühlte sie sich bemüßigt, ihn tröstend am Arm zu berühren. Er war immer noch ein Mensch. Ex sprach und dachte und litt. Wenn sie sich damit abfand, dass das, wozu er in der Lage war, nichts an seinem grundlegenden menschlichen Kern änderte – dass er das nicht zugelassen hatte –, dann hatte sie sich geirrt. So sehr geirrt.
»Es tut mir leid.« Die Worte reichten nicht aus, aber sie waren alles, was sie zu bieten hatte.
»Danach bin ich umhergestreift. Erst als ich nach Valle gekommen bin, habe ich überhaupt in Erwägung gezogen, für längere Zeit an einem Ort zu bleiben. Ich habe versucht, vor den Erinnerungen davonzulaufen.«
Dafür hatte sie Verständnis. Mit einem Nicken ermunterte sie ihn fortzufahren, da sie spürte, dass er sich die Last von der Seele reden musste. Sie hatte schon früher Beichtmutter gespielt, aber nicht für Ex.
»Ich war mir nicht sicher, ob ich bleiben sollte «, sagte er.
»Wegen unserer Vorschriften über Gestaltwandler.« Wegen meiner Vorschriften. Daran führte kein Weg vorbei. Sie hatte die Regeln festgesetzt, und die anderen hatten sich damit abgefunden.
»Ja. Aber ich dachte, wenn ich es für mich behalten würde, wäre ich in der Lage, es zu verheimlichen, solange ich bleiben wollte. Und dann …« Er zuckte mit den Schultern. »Am Ende wollte ich dann gar nicht mehr weg.«
»Warum erzählst du mir das jetzt?«
»Weil ich viel von mir selbst in dir sehe. Ich habe mich mit aller Kraft bemüht, mir Valle nicht ans Herz wachsen zu lassen, weil jeder Verlust so verdammt wehtut. Manchmal fühlt es sich
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