Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
sonst diejenige, die auf genaueste Einhaltung der Ordnung pocht. Ausgerechnet Ihr aber ratet mir nun, einen gemeinen Dieb einfach wieder laufenzulassen?«
»Seht Ihr denn nicht, wie es um den armen Burschen steht? Allein von dem Zusammenprall hat er schon die Hosen voll. Liefert Ihr ihn nun auch noch dem Büttel aus, wird er nach der zu erwartenden Tracht Prügel halb tot vor Angst im Straßengraben landen. Beweist Euren wahren Heldenmut und lasst den armen Kerl laufen.«
Unter den Umstehenden erhob sich beifälliges Raunen, bald stimmten die Ersten Mathilda zu. »Recht hat sie!« – »Habt Erbarmen!« – »Wir sollten ihm was zu essen geben, dann muss er es nicht stehlen.«
Die dicke Frau, vor deren Füßen der erbärmliche Strolch lag, bückte sich und zog ihn auf die Beine. Einige klatschten Beifall. Der Junge wagte kaum, den Blick zu heben. Die Frau flüsterte ihm etwas ins Ohr. Zuerst schüttelte er heftig den Kopf, dann, als sie ihm abermals etwas zuwisperte, streckte er widerwillig die Hand aus. Mathilda lächelte Polyphemus aufmunternd zu. Er zögerte. Ein grauhaariger Mann neben ihm stieß ihn in die Seite. Endlich nahm er die Hand des Jungen. »Also gut. Pack die Arme in die Hand und lauf los. Wenn du dich nicht beeilst, ist der Büttel gleich da. Hier«, er fischte eine Münze aus seiner Rocktasche und steckte sie ihm zu. »So sind wenigstens die Hühner wieder sicher vor dir.«
Ungläubig starrte der Junge erst auf die Münze in seiner Hand, dann auf Polyphemus, schließlich auf die Leute ringsum. Sie nickten zustimmend, traten beiseite, um ihm den Fluchtweg zu öffnen. Die Dicke versetzte ihm einen sanften Schubs, daraufhin rannte er los. Als er um die nächste Ecke bog, brandete Beifall auf. Stolz schaute Polyphemus umher und dankte mit einer leichten Verbeugung nach allen Seiten.
»Kommt.« Mathilda zog ihn am Arm mit sich fort. »Jetzt, da Ihr aus unerfindlichen Gründen hier aufgetaucht seid, muss ich mit Euch ein paar Dinge bereden.«
Widerwillig stolperte er neben ihr her, sichtlich bedauernd, so schnell den Ort seines Triumphs verlassen zu müssen. Gern hätte sie ihm auf den Kopf zugesagt, wie lächerlich er sich aufführte. In Erinnerung an die Freundschaft mit seiner Frau aber versagte sie sich diesen Wunsch. Schon an der nächsten Ecke liefen sie zwei Bütteln in die Arme, die offenbar unterwegs zum Ort des Zusammenpralls waren. Polyphemus’ lädiertes Aussehen weckte sofort ihre Aufmerksamkeit, und sie versperrten ihnen den Weg.
»Seid Ihr der Mann, den der Dieb so übel zugerichtet hat?«
»Welcher Dieb?«, kam Mathilda Polyphemus eilig zuvor, um eine umständliche Erklärung zu verhindern, die sie nur wieder aufgehalten hätte. »Ihr seht doch, mein Gatte ist über seine eigenen Füße gestolpert. Das passiert ihm leider öfter. Er ist ein Mann des Buches. Viel zu tief pflegt er in seinen Gedanken zu versinken, da fällt er gern über einen winzigen Stein oder ein geflohenes Huhn, oft sogar einfach nur über die eigenen Füße.«
Die beiden Büttel stutzten, musterten eindringlich erst sie, dann den Bibliothekar, dann wieder sie. Verständnis heischend lächelte sie ihnen zu. Da verzog der eine das bärtige Gesicht zu einem frechen Grinsen und stieß seinen Gefährten in die Seite. »Wahrscheinlich ist Euer Gemahl nicht nur ein Mann der Wissenschaft, sondern auch des Bieres. Zu viel von beidem tut wahrlich nicht gut. Ihr solltet besser auf ihn aufpassen.«
Polyphemus schnaufte verärgert. Mahnend drückte Mathilda ihm den Arm. »Seid still«, raunte sie und beeilte sich, an den Bütteln vorbeizuschlüpfen. Erst als sie das Südende des Großen Marktplatzes erreichten, ließ sie den Arm des Bibliothekars los und atmete auf. Im Schatten der winzigen St.-Adalbert-Kirche blieb sie stehen und betrachtete den gedrungenen Mann in der abgerissenen Kluft eindringlich.
»Ein seltsamer Zufall führt uns beide ausgerechnet zur Kirche des polnischen Schutzpatrons.« Schelmisch grinste er. »Euch wird bekannt sein, dass er einst von Krakau aus die Missionierung Preußens betrieb. Es passt bestens zu Euch, mir genau an dieser Stelle die Leviten zu lesen. Sicherlich wollt auch Ihr mich für eine Missionierung gewinnen.«
Schon wieder eine dieser eigenartigen Anspielungen des belesenen Mannes, mit denen er Eindruck schinden wollte. Statt einer Antwort schnaubte sie verächtlich.
Er aber gab noch immer keine Ruhe, hob gar den Zeigefinger, als wollte er sie ermahnen. »Täusche ich mich,
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