Die Maori-Prinzessin
betretenes Gesicht fügte sie hinzu: »Hat das Erdbeben dort größeren Schäden angerichtet?«
Eva kamen die Tränen. Sie nickte.
»Nun sag schon! Was ist geschehen?«, hakte Tante Ha ungeduldig nach.
»Napier ist völlig zerstört. Die Innenstadt gibt es nicht mehr. Die Feuer haben den Trümmern den Rest gegeben.«
»O weh, o weh«, jammerte Lucie, doch dann stockte sie. »Wo ist Adrian?«
»In Sicherheit. Er war nicht in der technischen Schule, als sie zusammengebrochen ist und die Schüler unter sich begraben hat«, entgegnete Eva. »Viel mehr Sorge macht mir Berenice. Ein Stein vom Schornstein muss sie erwischt haben, und wir bekommen keinen Arzt. Sie ist ohnmächtig.«
Die beiden alten Damen traten nahe an das Sofa heran.
»Du sagst, kein Arzt ist zu bekommen. Warum nicht?«, fragte Tante Ha nach, während sie vorsichtig Berenices Kopf betastete.
»Die Stadt ist völlig zerstört. Sie müssen sich um die zahlreichen Schwerverletzten kümmern.«
Lucie hob die Hände gen Himmel und murmelte etwas auf Maori. Als sie die Hände sinken ließ, traf sie der erstaunte Blick einer ihr unbekannten jungen Maorifrau.
»Wer bist du?«, fragte sie neugierig.
»Ich bin Hariata, Evas neue Freundin«, erwiderte sie. »Und Sie sind Misses Bold?«
»Ja, das bin ich, aber so entgeistert wie du mich ansiehst, muss ich ja annehmen, du hältst mich für ein Ungeheuer.«
»Nein, meine Familie hat Sie immer bewundert für …«
Lucie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was, ich habe niemals im Leben etwas getan, wofür ich Bewunderung verdiene und …«
»Kann mir jemand Wasser holen und ein sauberes Tuch?«, fragte Tante Ha dazwischen. Hariata eilte los. »Der Kopf scheint gar nicht so schwer getroffen oder …«, bemerkte Tante Ha und stockte.
»Oder was?«, wollte Eva wissen.
»Oder die Verletzung liegt unter dem Schädel …«
Eva verstand, was das bedeuten würde. Dann wäre Berenice dem Tod geweiht. Hariata brachte eine Schüssel mit warmem Wasser und ein sauberes Tuch. Sorgfältig säuberte Tante Ha die Wunde. Ein paar Mal stöhnte Berenice auf, aber sie wurde nicht wach.
»Gibt es ein Zimmer, in dem ich sie in Ruhe behandeln kann?«, fragte Tante Ha. Eva schlug vor, dass sie sich in ihr Zimmer zurückziehen könnten, und bat zwei der Seemänner, die eigentlich schon wieder gehen wollten, um weiteren Menschen zu helfen, Berenice den langen Gang entlangzutragen. Tatkräftig hoben sie die verletzte junge Frau vom Sofa. In diesem Augenblick merkte Eva, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie wollte sich noch an der Stuhlkante festhalten, da sackten ihr bereits die Beine weg.
N APIER , 3. F EBRUAR 1931
Es gab eine schlechte Angewohnheit ihrer Schwester Harakeke, die Lucie partout nicht leiden konnte: ihre Lust am Zigarettenrauchen, doch an diesem lauen Abend störte es sie nicht im Geringsten. Im Gegenteil, sie würde ihrer Schwester alles bringen, was sie in diesem Augenblick wünschte, denn Harakeke hatte es in geradezu aufopfernder Weise geschafft, den Zustand der beiden jungen Frauen zu stabilisieren. Sie hatte sich von Hariata aus ihrem Haus jene Geheimmittel bringen lassen, die Berenice und Eva tatsächlich geholfen hatten. Beide waren, so hatte Harakeke versichert, außer Lebensgefahr. Nach dieser Anstrengung war die Maori völlig erschöpft und zog es vor zu schweigen, was Lucie außerordentlich missfiel.
»Nun sag doch schon, was mit ihnen ist?«, fragte sie zum wiederholten Mal, woraufhin Harakeke stereotyp antwortete: »Sie sind außer Gefahr.«
»Du bist mundfaul!«, schimpfte Lucie.
»Und du bist selbstsüchtig!«, konterte Harakeke.
Lucie schluckte ihre Erwiderung hinunter. Heute wollte sie sich nicht mit der Schwester streiten, so wie es die beiden taten, seit sie sich im Jahr 1875 in Lucies Haus wiedergetroffen hatten. Seitdem waren sie ständig geteilter Meinung, und jede vertrat die ihre gleichermaßen vehement.
Harakeke fand, dass sie ein Recht hatte, alles, was sich im Krankenzimmer abgespielt hatte, für sich zu behalten. Sie unterlag zwar keiner ärztlichen Schweigepflicht wie die Pakeha-Doktoren, aber für sie war es selbstverständlich, darüber zu schweigen. Sie würde ja auch keinem verraten, wie sie Lucies Knochenschmerzen zu Leibe rückte. Hauptsache war doch, ihre Bemühungen waren erfolgreich.
Am lauten Aufstöhnen ihrer Schwester war unschwer zu erkennen, dass Lucie es ganz anders sah. Wahrscheinlich wird sie nicht aufgeben, bis ich alles bis ins kleinste Detail
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