Die Narben der Hoelle
einer Kreissäge ähnlich, der stetig anschwoll – Begleitmusik zu einem furchteinflößenden Naturschauspiel, wie Johannes es noch nie erlebt hatte.
Einem gigantischen Rüssel gleich, unten spitz und nach oben breiter werdend, drehte sich mit rasender Geschwindigkeit eine graue Wasserhose auf ihn zu. Sie kam vom offenen Meer und nahm ihren Weg an der Nordspitze der Ziegeninsel vorbei direkt in die Bucht hinein.
An seinem unteren Ende sog der Tornado das Wasser in ständiger Drehung einige Meter in die Höhe und zog eine Spur aus kochender Gischt über die See.
Unaufhaltsam lief sie auf die Akgül zu.
Das markerschütternde Singen der Kreissäge steigerte sich in einem wahnsinnigen Crescendo.
Johannes stand regungslos im Cockpit und starrte gebannt auf das kreischende Ungeheuer, das ihn demnächst verschlingen würde.
Er wusste, dass er irgendetwas tun sollte.
Aber was konnte ihn vor diesem blindwütig heranrasenden Inferno retten?
Vielleicht noch zwanzig Sekunden, schätzte er.
Wenn die Wasserhose mit dieser Urgewalt direkt über die Yacht hinwegfegte, würde sie Kleinholz aus ihr machen. Und aus ihm.
Wenn … , aber vielleicht …
Vielleicht jagte das Ding auch ein paar Meter am Schiff vorbei.
Eine schwache Hoffnung. Und die letzte.
Er sprang mit zwei Schritten zum Niedergang und hielt sich an der Sprayhood fest. Über den Mast peilte er den grauen Rüssel an, der immer näher kam.
Lief die Spur wirklich genau auf ihn zu? Es sah so aus, aber er war sich nicht ganz sicher.
Auf jeden Fall musste er sofort nach unten! Und dann alles dichtmachen, alles verschließen …
Zu spät.
Es blieb ihm nicht einmal mehr die Zeit, das Schott vor dem Niedergang einzustecken. Er rutschte einfach die Treppe hinunter und blieb, das Gesicht nach unten, auf dem feuchten Kajütboden liegen.
Zwei Sekunden später fiel der Tornado wie ein Höllengewitter mit ohrenbetäubendem Getöse über die Akgül her.
24
Mai
Afghanistan
Gedämpftes Neonlicht, Summen von Elektronik und leichter Geruch von Chemikalien in der gefilterten Atemluft.
An mehreren Stationen saßen die Spezialisten und betrachteten endloses Filmmaterial auf hoch auflösenden Monitoren. Piloten und Waffensystemoffiziere, gerade gelandet von ihrem Einsatzflug, kamen in’ ihren verschwitzten Fliegerkombis herein, um die Auswerter bei ihrer Arbeit zu unterstützen.
Johannes stand in einem der klimatisierten Container der Recce Ground Station, der Luftbildauswertestelle des Einsatzgeschwaders in Camp Marmal, und blickte einer jungen Frau über die Schulter. Vor der Luftbildauswerterin mit den Schulterklappen eines Oberfeldwebels lag ein großformatiges Luftbild auf dem Tisch, und sie übertrug gerade mit einem feinen roten Filzstift die Konturen der Höhle aus Hedayats Skizze in das Foto.
Es zeigte einen flachen Gebirgsausläufer, und in der Mitte war ein Tal mit einer kleinen Siedlung zu erkennen. Durch die Markierungen mit dem Stift bekam man nun einen Eindruck davon, wie es im Inneren des Berges aussah.
»Mit dem Maßstab haben wir so unsere Probleme«, murmelte sie, während ihr Blick immer wieder zwischen Hedayats Zettel und dem Foto hin- und herwanderte. Ohne sich von ihrer Arbeit abzuwenden, sagte sie laut: »Wenn das hier … «, sie deutete auf die kleine Siedlung, » … also dieser Eingang hier, wenn der nicht wäre, dann hätten wir überhaupt keinen Bezugspunkt, der von außen erkennbar wäre. Aber da hat er ja diese Häuser eingezeichnet. Das hilft natürlich.«
»Phantastische Arbeit!«, lobte Johannes. »Aber wie steht’s denn mit den anderen beiden Eingängen, die er da gemalt hat? Haben Sie die genau lokalisieren können?«
»Das war gar nicht so einfach, Herr Hauptmann«, antwortete sie. »Dies ist das Foto, das wir für Sie herausgesucht und auf Kartenmaßstab gebracht haben. Vorher haben wir uns aber auf den Negativen alles mehrfach vergrößert angesehen. Vor allem die Stellen, die als weitere Eingänge in Frage kommen, weil sie ungefähr da liegen, wo der Mann sie auf seiner Höhlenskizze eingezeichnet hat.«
»Und das hat geklappt?«
»Sehen Sie mal: Hier und hier sind wahrscheinlich die beiden anderen Eingänge. Wir haben ziemlich lange daran getüftelt. Aber ich denke, das ist es jetzt.« Sie stand auf. »Ich lasse gleich ein paar Kopien machen, damit Sie genügend Material haben. Besser, wir versiegeln die Fotos auch noch. Wie viele benötigen Sie?«
»Fünf werden genügen«, antwortete Johannes und setzte vorsichtig
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