Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt

Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
von mir entfernten. Ich sah hinüber zur Tür von Faustus’ Kammer und bemerkte, daß sie nur angelehnt war. Zögernd trat ich davor und klopfte. Niemand antwortete. Mit der Fingerspitze drückte ich die Tür einen Spaltbreit auf, sehr langsam, sehr vorsichtig, aus Furcht, ich könnte den Meister bei irgendeiner nächtlichen Tätigkeit stören. Es mußte kurz nach Mitternacht sein. Die Zeit der Zauberei und Rituale.
    Faustus war nicht da. Sein Bett war unberührt. Auf dem Tisch lagen mehrere schwere Bücher, einige aufgeschlagen. Er mußte sie sich aus der Burgbibliothek besorgt haben. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er gehört hatte, daß ich den Abend über nicht allein gewesen war. Die Wände waren dünn, und die Laute unseres Liebesgetümmels hatten fraglos ihren Weg in Faustus’ Zimmer gefunden. Der Gedanke bereitete mir Unbehagen.
    Die Verlockung, seine Kammer zu betreten, war groß. Zu gerne hätte ich einen Blick in die Schriften geworfen, mit denen er die Nacht verbrachte. Waren es Zauberbücher? Magische Folianten, angefüllt mit altem Wissen? Konnte es angehen, daß sich in der Bibliothek der Wartburg solche Texte fanden?
    Ich widerstand der Versuchung und beschloß statt dessen, meinem Meister zu folgen. Zweifellos war er es gewesen, der sich so eilig über den Flur gestohlen hatte. Was hatte er vor, zu so später Stunde? Verbarg er etwas vor mir?
    Ich lehnte die Tür der Kammer wieder an, ganz so, wie ich sie vorgefunden hatte, und schlich dann den Gang hinunter. Faustus’ Schritte waren längst verhallt. Ich eilte die Treppen hinab und gelangte ins Erdgeschoß. Ein Durchgang führte von hier aus auf die Wehrgänge. Ich warf einen Blick hinein, konnte aber in der Schwärze nichts erkennen. Der lange überdachte Schlauch lag still und offenbar verlassen da.
    Ich ging zur Haustür und trat hinaus ins Freie. Keine Menschenseele war zu sehen. Ich nahm mir einen Augenblick Zeit und dachte nach. Konnte es sein, daß Faustus unterwegs war zu dem verletzten Mädchen? Die Vogtei lag am Nordende der Burganlage. Um dorthin zu gelangen, mußte er den Hof überqueren. Ich lief deshalb zum Tor, das den Süd-mit dem Nordhof verband, und blickte hindurch. Sein Vorsprung war groß, doch der Hof erstreckte sich weit genug, so daß ich ihn hätte sehen müssen, wenn er diesen Weg eingeschlagen hätte. Doch auch hier war er nicht. Blieb nur die entgegengesetzte Richtung. Faustus mußte sich noch im Südteil der Burg befinden.
    Der Mond erhellte den freien Platz. Neben mir wuchs der Bergfried düster in den Nachthimmel. Sein langer Schatten schnitt pechschwarz über den Hof; es sah aus, als hätte sich ein tiefer Spalt im Boden aufgetan. Etwas in mir warnte mich davor, über die Ränder des lichtlosen Streifens zu treten. Das war Unsinn, natürlich, und doch schien mir eine Stimme leise ins Ohr zu säuseln: Und wenn es doch ein Abgrund ist und kein Schatten?
    Ich fragte mich, ob Faustus es vermochte, mir solche Gedanken einzugeben. Wollte er mich so davon abhalten, ihm zu folgen? Nein, unmöglich. Der Rest eines Zweifels aber blieb.
    Leise lief ich los, über den bedrohlichen Schatten hinweg und an der Fassade des Palas vorüber. Dahinter hatte ich freie Sicht auf die Südmauer der Wartburg. Vom Hof aus war sie nicht hoch, nicht mehr als zwei Mannslängen. Obenauf verlief ein Zinnenkranz; er war, im Gegensatz zu den Wehrgängen im Nordteil, nicht überdacht. Eine schmale Steintreppe führte hinauf.
    Vor den Zinnen stand eine Gestalt und hatte mir den Rücken zugewandt. Sie blickte über die Mauer hinab in die Tiefe, weit vorgebeugt, als betrachte sie angestrengt etwas, das sich am Fuße der Felsen befand. Die langen dürren Glieder der schwarzen Silhouette ließen keinen Zweifel offen – es war Faustus. Und nun hörte ich gar, daß er sprach, ganz leise, fast murmelnd, als unterhalte er sich mit jemandem, der außerhalb der Burg im Wald kauerte.
    Mir war unheimlich. Ich wagte nicht, näher heranzutreten, obgleich ich nicht verstand, was Faustus sagte. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß.
    Plötzlich hob Faustus seine Stimme und sagte laut, ohne sich umzudrehen: »Komm schon her, unstetes Nachtgespenst!«
    Erschrocken fuhr ich zusammen. Faustus hatte bemerkt, daß ich ihm nachspionierte. Mir blieb nichts, als mich seinem Befehl zu beugen.
    Ich trat hinter der Ecke des Palas hervor und erklomm die Treppe zu den Zinnen. Auf der anderen Seite der Mauer erstreckte sich das schwarze Meer der Baumwipfel. Diffuse

Weitere Kostenlose Bücher