Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
nachzudenken, wie von einer inneren Kraft getrieben, warf sich Alice in der winzigen Sekunde, die sie vom Tod trennte, zu Boden. Fieberhaft zitterte sie, hoffte sie, dass keiner der Männer genau wusste, wer von ihnen die Fliehende getroffen hatte, und dass sie die Frau da auf der Erde für tot hielten. Warum sich um eine Einzelne kümmern?
Alice, bewegungslos ihr Gesicht in den heißen, staubigen, steinigen Boden drückend, hörte das Weinen, das Schreien der Mädchen und Frauen, wenn die Männer sie niederwarfen, die Röcke hochrissen, sich über sie hermachten, um sie danach zu töten oder liegen zu lassen, gerade wie es ihnen gefiel.
Nur sich nicht bewegen. Nur regungslos liegen bleiben. Sie fühlte, dass sie Wunden im Gesicht hatte, es war zerschrammt und blutete. Vor allem aber bekam sie keine Luft. Alice presste ihren Kopf so fest in den Boden, dass ihr beinahe der Atem wegblieb. Sie zwang sich trotzdem, wie tot auszuharren.
In dieser entsetzlichen Ewigkeit gellte der Schrei der Bogenschützin auf.
Oh Gott, fieberte Alice. Was tun sie mit ihr?
Alice zitterte, ohne sich zu rühren. Sie horchte angestrengt. Allmählich entfernten sich die Reiter. Nur weiter sich nicht rühren, ermahnte sie sich. Das Schreien wurde weniger. Immer seltener hörte Alice das Lachen, das den tödlichen Schuss in den Rücken begleitete.
Endlich – irgendwann riefen die Männer sich in ihrer fremden Sprache etwas zu, sie schienen sich zu sammeln. Dann galoppierten sie davon.
Alice blieb immer noch bewegungslos liegen. Schließlich wagte sie, den Kopf etwas zu heben, um besser atmen zu können. Auch jetzt wartete sie, ob die feindlichen Reiter zurückkommen würden. Jedoch schienen sie sich tatsächlich entfernt zu haben. Alice hielt ihr Ohr an den Boden, ob sie noch Pferdehufe hörte. Doch die Erde blieb stumm.
Vorsichtig setzte sie sich auf die Knie. Um sie herum überall Leichen, die meisten mit einem oder mehreren Pfeilen im Rücken. Mit ihr erhoben sich auch die beiden Frauen, die vergewaltigt, jedoch am Leben gelassen waren. Sie brauchten nach ihren Kindern nicht lange zu suchen, die niedergestreckt dicht neben ihnen lagen. Eines der Kinder war enthauptet. Die Bogenschützen waren tot, natürlich. Josephine aber hatte man die Hände abgeschlagen. Das war das Kreischen, das Alice in die Knochen gefahren war. Den Bogen hatte man ihr genommen. Die drei überlebenden Frauen wankten zum Lager zurück. Eine von ihnen hatte ihr totes Kind in den Arm genommen. Alice war innerlich leer. Sie war wie vernichtet und verbrannt. Nur ein fürchterlicher Durst sagte ihr, dass sie noch am Leben war.
An Bernhards zorniger, strafender Stimme vorbei hastete Alice ins Zelt. Regungslos und völlig erschöpft sank sie auf die Knie, nahm Hannos kleine Hand und betrachtete ihr Kind. Der Junge schlief noch immer, atmete sanft, seine schwarzen Locken umrahmten sein liebes Gesicht, auf seinen Wangen lag ein rosa Schimmer.
Wie ein Engel, ging es ihr durch den Sinn.
Um Gottes willen, entsetzte sie sich. Was denke ich da?
»Hilf uns, Mutter Maria!«, flehte sie und bekreuzigte sich.
»Was ist?«, fragte Bernhard, der hinter Alice getreten war.
Sterben vor den Toren Jerusalems, Juni/Juli 1099
»Na, was ist?«, fragte Achard von Montemerle, als Bernhard abends leise die Zeltwand beiseiteschob und eintrat.
Er setzte sich auf, strich mit den Händen durch sein wildes Haar und sah Bernhard gespannt an.
»Nichts ist. Was soll auch schon sein? Unsere Heerführer halten Gespräche mit dem Kommandanten von Jerusalem für sinn- und zwecklos. Natürlich. Schließlich sind die Verhandlungen unserer Delegation mit dem Kalifen in Ägypten gescheitert.«
Er lachte bitter. »Welch eine Gnade war sein überaus großzügiges Angebot, dass wir Jerusalem ohne Waffen betreten und an unseren heiligen Stätten beten dürfen. Und das, obwohl die Ägypter Jerusalem niemals hätten erobern, es den Türken niemals hätten wegnehmen können, wenn wir diese nicht bei Antiochia vernichtend geschlagen hätten. Danach waren die so geschwächt, dass sie ihrer Jerusalemer Garnison nicht zu Hilfe kommen konnten. Das nenne ich mir Dankbarkeit. Den Vorteil einstecken und uns demütigen.«
»Wie blöd sind die Ägypter eigentlich«, regte sich Achard auf, »glauben allen Ernstes, dass wir unsere Heimat verlassen, Schulden aufnehmen ohne Ende, drei Jahre unter schwersten Verlusten, Kämpfen und Entbehrungen unterwegs sind, damit wir die heiligen Stätten in Jerusalem sehen
Weitere Kostenlose Bücher