Die Prophezeiung der Steine
sich beruhigte. Als der Rotschimmel damals beschlossen hatte, vor Gorhams Hof stehen zu bleiben, hatte sie das akzeptiert und lebte nun schon jahrelang mit seiner Entscheidung. Aber das jetzt … Sie spürte, wie Angst in ihr aufkam, die Bedrohung durch Leere und Tod. Ohne das Rennen würde der Schleier vielleicht zurückkehren. In diesem Moment jedenfalls war sie davon überzeugt, erneut in den Nebel eintauchen zu müssen, dem sie entkommen war. Dieser Vorstellung war sie nicht gewachsen.
»Bitte«, sagte sie.
Er stieß einen tiefen Atemzug durch seine Nüstern aus, nicht wirklich ein Wiehern, eher ein Seufzen. Dann drehte er sich um, um an den Start zu gehen.
Es war ein starkes Feld, und sie legten einen schnellen Start hin. Die Jagdbeute war der junge Sohn eines benachbarten Bauern, der jeden Nachmittag, an dem es ihm möglich war (wenn er sich von seiner Arbeit wegschleichen konnte), bei Gorham verbrachte, wo er darum bat, als Lehrling angenommen zu werden. Er kannte jeden Fleck des Geländes und hatte seine Strecke so gewählt, dass sie Pferd und Reiter alles abverlangte. Es war der schwerste Kurs, den sie je geritten war, und als sie sich dem dritten Hindernis näherte, wusste Bramble, dass der Rotschimmel der Sache
nicht gewachsen war. Er tat zwar sein Bestes, aber jeder Sprung war eine Anstrengung für ihn, und er hatte den Drang verloren, nach dem Sprung wieder volles Tempo aufzunehmen. Er fiel allmählich zurück.
Sie hatte keine Erfahrung darin, in der Mitte des Felds zu reiten, denn sie hatten es immer angeführt. Bramble musste um ihre Position kämpfen, versuchen, über die anderen Reiter hinwegzusehen, um sich eine Vorstellung von der bestmöglichen Linie zu machen, wie der Sprung auszuführen war. Sie und der Rotschimmel waren aus dem Rhythmus gekommen. Am vierten Hindernis lagen sie an fünfter Stelle, und Bramble überlegte schon, wie sie auf sichere Art aus dem Rennen gehen konnte, ohne vom Hauptfeld niedergetrampelt zu werden.
Die Jagdbeute führte sie in halsbrecherischem Tempo einen zum Teil bewaldeten Hügel hinab und sprang dann über einen seichten Wasserlauf, der sich tief zwischen seine Ufer eingegraben hatte. In dem Flussbett lagen scharfe, unversöhnliche Felsen. Das Pferd vor ihnen stürzte, als das Ufer unter ihm nachgab, und der Rotschimmel musste nun nicht nur über den Wasserlauf, sondern auch über das andere Pferd springen. Es war ein Sprung, den er in der Vergangenheit mit bescheidener Mühe gemeistert hätte.
Er hob ab, besaß aber nicht die Kraft, bis ganz über den Flusslauf zu gelangen. Einen Moment schwebte er in der Luft, dann stürzte er, drehte sich in dem Moment, in dem er auf dem Boden aufschlug, um sie abzuwerfen, keilte aus und verdrehte sich noch einmal, damit sie nicht unter ihn geriet. Sie hörte, wie er mit dem Kopf gegen einen der Felsen krachte, und langte nach ihm, doch durch den Sturz und die Strömung in dem Wasserlauf wurde sie abgetrieben. Sie kroch gegen die Strömung zurück, ohne auf das über sie springende Hauptfeld zu achten und warf sich ein
Stück weiter ans Ufer. Der Lärm war ohrenbetäubend, aber sie selbst bewegte sich in einer Blase der Stille, bis sie ihn erreicht hatte und seinen rasselnden Atem hörte.
Sein Kopf war voller Blut, und seine Rippen waren offensichtlich gebrochen, Knochen durchbohrten die Haut. Unter ihnen floss der Wasserlauf rot dahin, und der Atem des Rotschimmels ging immer schwerer. Sie setzte sich in die Flusssohle und nahm seinen Kopf auf den Schoß. Resigniert starrte er zu ihr auf und rieb hustend die Nüstern an ihr. »Es tut mir leid, es tut mir leid«, sagte sie immer wieder. Der Atem des Rotschimmels wurde rau und verwandelte sich in jenes Todesröcheln, das bedeutete, dass sein Ende nah bevorstand. Bramble legte den Kopf auf den seinen, um jedes Zittern und Schaudern mit ihm zu teilen. Als das Zittern aufhörte, nahm sie dies mit ihrem ganzen Körper wahr. Sie hob langsam den Kopf und schaute ihn an. Dann drückte sie ihm sanft die halb offenen Augen zu.
Es war ihre Schuld, das wusste sie. Obwohl sie gemerkt hatte, dass er nicht in der Form war, um an einem Rennen teilzunehmen, hatte sie ihn aus Angst dazu gezwungen. Sie hatte sich von einer Angst in sich leiten lassen, die sie bei der Bedrohung durch einen anderen niemals empfunden hätte. Sie hatte den Rotschimmel geopfert, ihn verraten.
Sie war bereit dazu, den Preis des Verrats zu bezahlen. Sie fühlte sich benommen und hieß diese Benommenheit
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