Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
nichts wiedergutmachen kann.
*
William de Thorigny bahnte sich seinen Weg durch die Jagdgesellschaft. Sein Ziel war Prinz John, der jüngste Sohn des Königs, der am Rand der Lichtung stand. Ein Falke, der noch die Haube über dem Kopf trug, hockte auf Johns behandschuhter Rechten. Er schlug ungeduldig mit seinen Flügeln, als könnte er es kaum abwarten, sich in den grauen Herbsthimmel hinaufzuschwingen. Dieser königliche Vogel, dachte William ein bisschen belustigt, hätte viel besser zu Richard gepasst.
John war ein blasses, unleidliches Kleinkind gewesen, das sein verkrümmter Rücken stets ein bisschen ängstlich und misstrauisch hatte wirken lassen. Mittlerweile war er zehn Jahre alt, wirkte aber viel reifer. An Attraktivität hatte er nicht gewonnen. Was nicht nur an seinem deformierten Körper lag. Sein mausfarbenes Haar war strähnig, seine Nase zu lang, seine Augen waren wässrig und seine Lippen zu schmal – wobei trotzdem, wie in einem Zerrbild, eine Ähnlichkeit zu seinem Bruder Richard aufschien. John – dies hatte William während der letzten Stunden beobachtet – besaß nichts von Richards Selbstsicherheit und Charisma. Aber auf eine durchtriebene, altkluge Weise wirkte er schlau. Mit ihm musste man auf jeden Fall rechnen.
John nahm dem Falken gerade die Haube ab, als William wie scheinbar absichtslos neben ihm stehen blieb. Der Vogel stieß einen heiseren Schrei aus, spannte seine Schwingen und schraubte sich hoch in die Luft.
»Ein schönes Tier«, sagte William anerkennend.
»Ja, nicht wahr?« John blickte dem Vogel nach, der nun nur noch als ein Punkt in der Ferne auszumachen war. »Meine Mutter hat ihn mir geschenkt, kurz bevor sie in Gefangenschaft geriet. Wozu Ihr ja einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet habt.«
»Was Ihr mir hoffentlich verzeihen könnt …« William verneigte sich.
John ging nicht darauf ein. »Ich war – wurde mir immer gesagt – das Lieblingskind meiner Mutter. Ihr Jüngster. Es heißt ja, dass Mütter gerade die Kinder am meisten lieben, die mit einem körperlichen Gebrechen geschlagen oder sonst auf irgendeine Weise benachteiligt sind.« Er lächelte schmallippig.
»Ich bin überzeugt, dass Euch Eure Mutter wegen Eurer vielen guten Eigenschaften und Talente bevorzugt hat«, erwiderte William höflich.
Der Falke stürzte nun wie ein Pfeil auf die Erde nieder. Gleich darauf kam er mit der Beute in seinen Klauen zu John zurückgeflogen.
»Oh, nur ein kleiner, junger Hase«, sagte John enttäuscht, als er dem Falken das Tier abnahm. »Der ist es nicht wert, gebraten zu werden.« Das Tier war verletzt, aber noch nicht tot. Eines seiner Ohren zuckte, und seine pelzige Nase bebte furchtsam. John warf es auf den Boden und markierte es so als Beute für den Falken. Der Hase versuchte wegzuhoppeln. Aber sofort war der Falke über ihm und schlug seine Krallen in seinen Pelz. Während er mit seinem Schnabel den Leib des Hasen zerhackte, bebte dessen Nase immer noch.
John sah dem Raubvogel interessiert zu, wie dieser das kleine Tier bei lebendigem Leib in Stücke riss. Als er aufschaute, trafen sich sein und Williams Blick. »Um auf Eure Frage zurückzukommen«, sagte John freundlich. »Ja, ich verzeihe es Euch, dass Ihr meine Mutter während ihrer Flucht gefangen genommen habt. Denn sie hatte sich nicht nur gegen ihren Gatten, sondern auch gegen ihren König gestellt, was niemand ungestraft tun darf.«
»Ich freue mich, dass Ihr die Dinge so seht.« William verneigte sich wieder.
Von dem Hasen waren nun nur noch ein Fellrest und ein paar Knochen übrig. Blut glänzte auf dem Schnabel des Falken, als er sich wieder auf Johns Hand schwang. Der Prinz streifte ihm die Haube über den Kopf. »Er ist jetzt satt«, sagte er nachdenklich, »und heute nicht mehr für die Jagd zu gebrauchen.« Dann musterte er William abschätzend. »Aber Ihr, de Thorigny, Ihr seid noch nicht satt, vermute ich?«
William hielt seinem Blick stand und lächelte ihn an. »So wenig wie Ihr, Hoheit.«
»Wie schön, dass wir uns verstehen.« John winkte einem Jagdknecht und übergab ihm den Vogel, der den Kopf unter der Haube unruhig bewegte.
Kapitel 6
K omm, meine Kleine. Wir sind wieder zu Hause.« Adela hob Robin vom Schlitten und setzte sie auf ihre Hüfte. Zu Hause … Die Worte hörten sich noch ganz ungewohnt an, und manchmal zweifelte sie daran, ob sie ihrem Glück wirklich trauen konnte. Aber das einstöckige Haus mit dem dick verschneiten Strohdach, auf dem die letzten
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