Die Regentin (German Edition)
letzten Lebensjahren nicht verstören können, und das Sterben tat es genauso wenig.
Nicht alle der Trauernden teilten seine Gelassenheit. Als Thille Bathildis zum aufgebahrten Leichnam führte, welcher in der Kirche Saint-Loup seine letzte Ruhestätte finden sollte, so glänzten in seinen treuen Augen Tränen, und Bathildis selbst – nicht sicher, ob sein Leid sie dazu anstiftete oder sich lediglich ihr Schrecken über die schlimme Nachricht entlud – war beim Anblick des Toten von Weh übermannt, das sie viel größer und wuchtiger deuchte, als es der Anlass gebot.
Dass sie eines ihrer engsten Ratgeber verlustig gegangen war, obendrein in jener Stunde, da sie seiner so dringend bedurfte, zeugte in ihr nicht nur echte Trauer, sondern zerrte unvermutet das namenlose Entsetzen jener Stunde hervor, da sie sich schon einmal von aller Welt verlassen gefühlt hatte.
Allein. Ganz allein auf der Welt. Trostlose Einsamkeit. Von Aidan getrennt.
Aufschluchzend stürzte sie sich auf den Aufgebahrten, um ihn – zum Entsetzen der übrigen Trauernden – nicht nur ehrfürchtig zu begaffen, sondern ihn zu berühren, ja, seine Hand zu packen, sie zu drücken, ihn daran hochzuziehen, als reichte ihre Verzweiflung, um ihn zurück ins Leben zu rufen und ihn zur Rede zu stellen: Wie kannst du dich davonstehlen, da ich dich doch brauche? Was suchst du dir für dein Ableben die Stunde aus, da ich bereits getroffen bin?
Thille war der Erste, der sich aus der verschreckten Starre löste, sie an den Schultern packte, sie zurückriss. Sie verstand die Worte nicht, die er ihr eindringlich zurief – waren es angelsächsische? Oder war ihr Sinn zu verwirrt, um noch der menschlichen Sprache mächtig zu sein?
Sie ließ vom Leichnam ab, was nicht gleich hieß, dass sie bereit war, in seiner Gegenwart demütig und fromm zu schweigen.
»Sagmir, was ich tun soll, Eligius!«, schallte es durch die Mauern. »Soll ich Ebroin gewähren lassen? Soll ich an der Macht festhalten? Oder soll ich in ein Kloster flüchten?«
Betretenes Schweigen antwortete ihr. Selbst die schmalen Lippen des Toten schienen sich missbilligend zu verziehen. Sie ließ sich nicht davon abbringen; lieber wollte sie schreien und toben, als sich dem Gefühl des Verlassenseins anheimzugeben.
»Kann ich denn auf Macht verzichten so wie du auf die Schönheit?«, wütete sie fort. »Und ist es dir tatsächlich gelungen? Oder ist nicht manchmal der Goldschmied in dir erwacht, der Gott lieber mit dem Glänzenden, Funkelnden, Reinen hätte ehren wollen als mit dem Dienst am stinkenden, dreckigen Menschenpack?«
Ihre Stimme erschöpfte sich, doch die Hoffnung der Umstehenden, sie hätte damit ihrem Schmerz genügend Ausdruck verliehen, ward nicht erfüllt.
Jäh begann Bathildis, sämtlichen Schmuck von sich zu reißen, den sie trug: eine Kette aus Perlen, ein Armband aus Chalze-don und Hyazinth, ein Ring schließlich, auf dem ein Purpurstein funkelte.
Sie warf ihn auf den Toten, traf sein Gesicht, wünschte sich, o wünschte sich so sehr, er würde zusammenzucken, würde den Schmerz noch fühlen, den sie ihm antat, würde verwirrt auf den Schmuck blicken und einen verräterischen Augenblick lang davon geblendet sein. Warum war ihm so viel mehr Gelassenheit geschenkt als ihr? Warum so viel mehr Besonnenheit, was sich als Pflicht erkennen ließ und was, ohne zu zögern und ohne zu wanken, zu befolgen war?
Wieder spürte sie Thilles Griff um ihre Schultern, fest und empört.
»Nicht, nicht!«, rief er, und diesmal verstand sie ihn. »Stört seine Totenruhe nicht!«
Oh, eine zutiefst beneidete Ruhe war’s!
Nichts wünschte sich Bathildis in jenem Augenblick mehr, als sich fortzustehlen wie er, vielleicht nicht gänzlich von der Welt, jedoch von diesem Orte, wo man sie verständnislos beglotzte, mahnend den Kopf schüttelte, erregt darüber war, dass sie so wenig Respekt vor dem Bischof bekundete.
Wenn sie nur wüssten!, ging Bathildis durch den Kopf – zugleich verzweifelt und hämisch. Wenn sie nur wüssten, dass ich zu Schlimmerem tauge, dass ein anderer Bischof in meinem Namen ermordet wurde!
Sie wandte sich von dem Toten ab und blickte in den Kreis, der sich um sie gebildet hatte.
»Ich möchte, dass er in Chelles begraben wird«, erklärte sie rasch. »Das ist ein Kloster, das ich gegründet habe. Er hat es besucht und auch gesegnet.«
Wiewohl ihre Stimme sich gemäßigt hatte, erntete sie nicht minder verwirrte und verärgerte Blicke.
»Wo denkst du hin,
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