die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Razvin hob seinen Becher und prostete den anderen zu. „Hier bei uns leben wir lieber auf Messers Schneide.”
„Wir leben nicht lieber so”, erwiderte Coranna. „Die Schneide wird uns von unserer Umgebung aufgezwungen. Du wirst es verstehen, wenn du erst mein Alter erreicht hast – Kalindos ist meine Heimat, und ich werde sie nie verlassen, aber diese alten Knochen hätten auch nichts gegen Linderung einzuwenden.” Sie richtete sich an Rhia. „Wenn du zu der zweiten Phase deiner Ausbildung zurückkehrst, bring so viel Brot mit, wie du tragen kannst.”
Mareks Miene erhellte sich bei Corannas Worten, doch dann zog er die Brauen zusammen und blickte auf seinen Teller hinab. Rhia fragte sich, ob er sich vorstellte, wie sie zurückkehrte, nachdem sie das Kind eines anderen Mannes empfangen hatte. Die Möglichkeit überstieg die Grenzen ihrer eigenen Vorstellungskraft.
Alanka stocherte einfach nur in ihrem Essen herum und sagte nichts.
„Na Kleines?”, fragte Razvin sie. „Gelüstet es dich nicht nach asermonischen Schätzen? Brot? Käse? Bier?”
Obwohl Rhia satt war von Fleisch und Nüssen, sehnte sich ihr Magen nach einer Mahlzeit nur aus Brot, Käse und Bier.
„Wie wäre es mit einem netten asermonischen Jungen?”, fragte er. „Sie sind größer als die kalindonischen, habe ich gehört.”
Alanka schob ihren Teller von sich. „Vater”, sagte sie, ohne ihn anzusehen, „warum musst du so ein Monster sein?”
Razvin starrte seine Tochter an, ein Dutzend Gefühle spiegelten sich in seiner Miene. Er begann zu sprechen.
Doch statt Worte zu formen, drang aus seinem Mund nur ein schreckliches Jaulen. Er griff sich an den Kopf und sprang vom Stuhl auf, der klappernd hinter ihm zu Boden fiel.
„Vater!” Alanka sprang auf ihn zu. Knurrend schob er sie von sich und hockte sich dann hin, mit den Händen auf dem Boden. Sein Rücken bog sich durch, und der animalische Schrei, der aus seiner Kehle drang, ließ Rhia das Blut in den Adern gefrieren.
Razvins Körper schrumpfte und verzog sich unter Qualen. Rotes Haar spross ihm aus Hals und Armen und wurde dicht wie ein Pelz.
Rhia keuchte auf. Es war Pelz.
Razvin verwandelte sich in einen Fuchs.
Klauen sprangen aus den Knöcheln seiner Finger und Zehen, und er kreischte, bis sein Gesicht sich zu einer rotschwarzen Schnauze verlängerte. Dann wurden seine menschlichen Geräusche zu einem Fauchen. Seine Gliedmaßen verkürzten und verlängerten sich, bis sie die Proportionen eines Hundes angenommen hatten. Seine Eckzähne wurden zu Fangzähnen. Zuletzt kam der Schwanz, und Rhia musste die Augen schließen, um ihr Abendessen bei sich zu behalten.
Der Fuchs lag einen Augenblick lang schwer atmend auf dem Boden und richtete sich dann auf, um zu fliehen. Razvins Kleider hingen noch locker an seinem Körper. Der Fuchs drehte sich panisch im Kreis, als er keinen Ausweg aus dem Raum fand. Er stolperte über einen zerknitterten Ärmel und schlug mit der Schnauze auf dem Boden auf.
„Vater?” Alanka ging langsam auf den Fuchs zu. „Kannst du mich hören?”
Ein Licht glomm hinter den schwarzen Augen der Kreatur auf, als würde sie die Stimme erkennen.
„Er hat seine ganze Macht erlangt”, sagte Coranna. „Füchse sind in ihrer dritten Phase Formwandler.”
Alanka schüttelte den Kopf. „Aber ich bin nicht schwanger. Ich habe mich seit über einem Monat nicht mehr mit einem Mann vereinigt.” Sie wandte den Blick ab. „Nicht dass das jemanden etwas angeht.”
Rhia schreckte auf. „Einer meiner Brüder.” Sie legte die Hand auf den Mund. „Ich werde Tante.”
„Ich auch!” Alanka sprang auf, um sie zu umarmen. „Ich kenne sie nicht einmal, aber ich freue mich so sehr.” Sie unterdrückte die Freude und wandte sich ihrem Vater zu. „Aber was machen wir mit ihm?”
„Lass ihn raus”, sagte Marek. „Mal sehen, ob Füchse auf Bäume klettern können.”
„Das ist nicht lustig.” Wütend starrte Alanka ihn an. „Er kann uns wahrscheinlich verstehen.”
Der Fuchs stieß ein heißeres Bellen aus, ließ sich dann jaulend auf die Seite fallen und verwandelte sich zurück in seine menschliche Gestalt, viel schneller, als er ein Fuchs geworden war.
Niemand sprach, als Razvin einen langen Augenblick lang nur die Wand anstarrte. Dann sagte er: „Das war unglaublich.”
Alanka kniete sich neben ihn. „Geht es dir gut?” „Unglaublich schmerzhaft, aber dennoch ...” Er sah zu Alanka auf. „Bedeutet das ...”
„Nein.” Sie hob die Hände.
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