Die Seidenstickerin
konnte? Ihr erster Fluchtversuch war aber, wie gesagt, gescheitert. Sie war zwar, so schnell sie konnte und wie blind weggelaufen – wie ein junger Hase, der vor der Falle flüchtet, die er wittert. Doch dann wurde sie müde, geriet außer Atem, verlief sich und konnte sich schließlich kaum mehr auf den Beinen halten, als sie sah, dass das ganze Dorf, mit Hunden zur Verstärkung, hinter ihr her war – drohend gestikulierende Frauen und mit Spießen bewaffnete Männer, als machten sie Jagd auf einen Schwerverbrecher. Diesmal sollte ihr Ausbruch aber glücken. Sie hatte ihn so minutiös geplant, dass er nur von Erfolg gekrönt sein konnte.
Auf ihren zweiten Fluchtplan war sie gekommen, als sie in dem großen Sprechzimmer mit seinen leuchtend bunten Kirchenfenstern und den angenehm nach Bienenwachs duftenden Holzbänken die junge Frau entdeckt hatte, die sie sofort an ihren blauen Augen und ihrer vornehmen Art wiedererkannte.
Um sich diese elegante und verführerische Gestalt in Erinnerung zu rufen, müsste man noch einmal vier Jahre zurückblicken. Es geht um besagte Reise, auf der Alix und ihre Freundinnen mit dem Konvoi der Zofen von Königin Anne nach Amboise gefahren waren. Und diese Dame hatte sich in ihrer Kutsche verstecken wollen, weil sie – genau wie sie selbst, aber aus ihr unbekannten Gründen, keinen Wert darauf legte, Dame Bertrande zu begegnen, der Frau von Meister Coëtivy. Sie hatte sich ihr als Isabelle vorgestellt, und Alix ließ sie unter ihre Decke schlüpfen, damit sie sich über Nacht ein wenig ausruhen konnte, ehe sie sich wieder auf den Weg machen musste.
Kehren wir aber zurück zum Kloster und vor allem zu dem Tag, an dem Alix die Kutsche dieser Dame im großen Hof neben dem Brunnen mit seinem steinernen grauen Rand entdeckte. Im Bruchteil einer Sekunde stellte Alix mit wachem Blick fest, dass der Kutscher die Pferde abspannte, um sie in den Stall zu führen. Um keine Zeit zu verlieren, beschloss sie an der Tür zum Sprechzimmer zu lauschen – sie musste mehr erfahren. Dort hörte sie dann, wie die Oberin mit der jungen Frau sprach, deren Namen sie bis dahin noch nicht kannte.
»Es ist alles in Ordnung, Gräfin de La Trémoille, Eure Kissen für die Kirche sind nächsten Montag fertig.«
So erfuhr Alix also nicht nur, dass die hübsche Dame, mit der sie einmal eine Nacht in einer Kutsche der Königin versteckt zugebracht hatte, Isabelle de La Trémoille hieß, sondern auch, dass sie bald wiederkommen würde.
Als dann am Montag darauf ihr Gespann in den Klosterhof fuhr, platzte Alix fast vor Wut als sie sah, dass der Kutscher keine Anstalten machte, seinen Beobachtungsposten zu verlassen. Sollte ihre Flucht an dieser unvorhergesehenen Wendung scheitern? Und wieso hatte sie sich keinen anderen Plan zurechtgelegt für den Fall, dass dieser verfluchte Kutscher auf seinem Kutschbock hocken blieb?
Alix musste sich entscheiden, sie durfte nicht länger abwarten. Gräfin de La Trémoille konnte jeden Moment aus dem Sprechzimmer kommen und ihre Kutsche besteigen. Also schlich sie ganz leise los und drückte sich, so gut es ging, an den Mauern entlang, damit sie nur ja keiner entdeckte. Oh Gott! Wenn sie von einer Nonne gesehen wurde, war sie verloren und fände sich sofort zwischen zwei Gefängniswärterinnen wieder, die sie in die finsterste Zelle des Klosters sperren würden.
Am liebsten wäre sie losgerannt, aber ein falscher Schritt, ein verdächtiges Geräusch oder sonst der kleinste Fehler hätten alles zunichtegemacht. Wie gern wäre sie endlich am Ziel gewesen, damit sie in die Kutsche klettern und sich unter einer Bank in Sicherheit bringen könnte – ganz hinten an die Wand gedrückt und ohne einen Mucks.
Immer noch an die Mauer gepresst näherte sie sich von hinten dem Fahrzeug, um den Blicken des Kutschers auszuweichen, der den Kopf mal nach links, mal nach rechts drehte. So erreichte sie endlich unbemerkt eine der Türen. Doch als sie sie öffnen wollte, stieß sie auf einen Widerstand.
Jetzt war Alix kurz davor, den Verstand zu verlieren; dabei musste sie ja um jeden Preis einen kühlen Kopf behalten. Auf keinen Fall durfte sie jetzt die Nerven verlieren! Also wollte sie noch einmal um die Kutsche schleichen, um die andere Tür zu öffnen, als der Kutscher plötzlich mit hoch erhobener Faust und drohender Miene vor ihr stand.
»Was machst du da?«
Erst wollte sie weglaufen, weil ihr der Mann solchen Schreck eingejagt hatte. Dann nahm sie aber doch ihren ganzen Mut
Weitere Kostenlose Bücher