Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
ergriffen wurde, und beschloss, dass es das Risiko nicht wert war, sich für einen Gassenjungen in Gefahr zu bringen, ungeachtet der Versprechungen, die er mir gemacht hatte.« Seine Stimme zitterte vor unbändigem Zorn, trotz all der Jahre, die seither vergangen waren.
Was auch immer damals wirklich vorgefallen sein mochte, Gregorios Hass und Zorn waren jedenfalls sehr real. Um sich ein besseres Bild machen zu können, fragte Jean:
»Warum richtet sich Euer Zorn nur auf meinen Vater? Hat Jasper Polmarric versucht, Euch beizustehen?«
»Es war nicht Polmarric, der mir die Versprechungen gemacht hatte«, erwiderte er mit düsterer Miene. »Ich glaube, Polmarric ist an jenem Tag gestorben, aber falls er überlebt hat und immer noch am Leben ist, werde ich ihn finden, wenn ich nach London fahre.«
»Ihr habt gesehen, wie Sir Jasper niedergeschossen wurde?«, fragte Jean verblüfft.
»Ja. Ihr scheint ihn ja zu kennen. Hat er überlebt?«
»Das ja, doch eine Musketenkugel traf ihn an jenem Tag im Rücken, und obwohl mein Vater ihm das Leben rettete, konnte Sir Jasper nie mehr gehen. Er ist seither an einen Rollstuhl gefesselt.«
Es bereitete Jean eine gewisse Genugtuung, Gregorios Schock zu sehen, doch zugleich erkannte sie auch beklommen, dass dies die Antwort sein könnte. Sie hatte oft genug gehört, dass Sir Jasper während eines Piratenangriffs niedergeschossen worden und ihrem Vater buchstäblich vor die Füße gefallen war. »Vielleicht musste mein Vater zwischen Euch und dem Leben eines seiner ältesten Freunde wählen«, sagte sie vorsichtig. »Möglicherweise hing die Sicherheit des ganzen Schiffes von ihm ab - er war der geborene Anführer und auch ein hervorragender Schwertkämpfer und Magier.«
Gregorio trat noch einen weiteren Schritt vor. »Glaubt Ihr etwa, es wäre mir ein Trost zu wissen, dass er eine solche Entscheidung traf?«
Jean dachte nicht daran, den Blick zu senken. »Nein. Aber ich weiß, dass Dinge sich während des Kampfes mit unglaublicher Geschwindigkeit ereignen. Entscheidungen über Leben und Tod müssen getroffen werden, ohne Zeit, darüber nachdenken zu können. Reue ist ein Luxus, der erst später kommt, sofern man überlebt.« Und der einen ein Leben lang im Traum verfolgt.
»Für eine wohlerzogene junge Dame sprecht Ihr mit großer Sachkenntnis vom Krieg«, warf Gregorio spöttisch ein.
Obschon Jean wusste, dass es ratsamer gewesen wäre, wenn er sie unterschätzte, konnte sie die Bemerkung nicht durchgehen lassen. »Irre ich mich denn?«
»Nein«, räumte er ein. »In der Hitze des Gefechts geschehen oft merkwürdige Dinge. Geringfügige Details können aufgebauscht werden; große Ereignisse können nur einen Blick entfernt vonstattengehen und dennoch übersehen werden. Ihr habt wohl viele Soldaten ihre Geschichten erzählen gehört.«
»Geschichten? Schottland hat vor ein paar Jahren einen blutigen Bürgerkrieg erlebt. Ich kannte viele Männer, die daran teilnahmen.« Da sie das Thema nicht vertiefen wollte, fuhr sie fort: »Selbst wenn mein Vater Euch ganz bewusst im Stich gelassen hat, was noch immer schwer zu glauben ist, scheint es Euch doch gar nicht schlecht ergangen zu sein.« Sie machte eine ausholende Geste, die das ganze Schiff mit einschloss. »Wie seid ihr der Sklaverei entkommen und zu einem Piraten geworden?«
»Ich habe einen Sklavenaufstand auf einer Galeere angezettelt«, erwiderte er kühl. »Wir töteten die Offiziere und die Besatzung, und das Schiff gehörte uns.«
Jean dachte an die Ketten, mit denen Galeeren-Sklaven an ihre Bänke gefesselt waren, und erschauderte. »Das war sicher schwieriger, als es sich anhört.«
Gregorios Augen wurden schmal. »Ich habe nicht gesagt, dass es einfach war.«
Wieder hatte Jean eine Vision, dieses Mal von unbewaffneten Männern, die in dem verzweifelten Versuch, sich zu befreien, über ihre Sklavenhalter herfielen. Dass es ihnen gelungen war, sie zu überwinden, lag vermutlich an dem Mann vor ihr. Mit seiner Intelligenz, Rücksichtslosigkeit und Stärke war Gregorio der geborene Anführer. »Ich frage Euch noch einmal, was Eure Absichten mir gegenüber sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr mich töten wollt, denn sonst wäre ich wohl schon tot.«
»Da habt Ihr recht. Sterben wäre viel zu einfach.« Seine Zähne blitzten, aber von einem Lächeln war sein Ausdruck weit entfernt. »Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich mit Euch tue. Vielleicht verlange ich ein Lösegeld für Euch.«
»Das
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