Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
mich auf die denkbar schlimmste Art verraten hat. Ich habe mir geschworen, mich an ihm und dem Haus Macrae zu rächen. Dass er tot ist, bedeutet, dass Ihr und Euer Bruder für die Verbrechen Eures Vaters büßen müsst.«
Vor Schreck war Jean einen Moment ganz sprachlos. Dann sagte sie: »Das ist absoluter Unsinn! Mein Vater war der letzte Mensch auf Erden, der jemanden verraten hätte. Ihr müsst Euch irren.«
»Euer Vater war doch James Macrae von Dunrath, oder? Auch als Lord Ballister bekannt und mit einem Sohn und Erben namens Duncan. Das habt Ihr mir selbst bestätigt. Oder gibt es auf Dunrath etwa einen anderen Macrae, der die Führerschaft beansprucht?«
»Nein«, bekannte Jean. »Aber vielleicht hat sich ja jemand einfach nur für meinen Vater ausgegeben?«
Nikolai schnaubte. »Und dieser geheimnisvolle Jemand verfügte über Wächtermacht? Ihr greift nach Strohhalmen, Madam.«
Sie musste ihm zustimmen, dass eine solche Täuschung unwahrscheinlich war. »Und was ist das Verbrechen, das Ihr meinem Vater vorwerft?«
Ein Muskel zuckte an der Wange des Kapitäns. »Euer lieber Vater hat mich irregeführt und in die Sklaverei geschickt. Dafür ist keine Strafe hart genug.«
Ein Schock folgte auf den anderen. »Nein! Mein Vater hätte so etwas niemals getan!«
»Nein?« Gregorio lachte kurz und bitter. »Ich war dort, Madam, Ihr nicht.«
»Erzählt mir, was geschehen ist.« Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Es wird viel Überzeugungskraft erfordern, mich solche Verleumdungen glauben zu machen. Im Moment habe ich mehr den Eindruck, dass Ihr geistig nicht ganz bei Euch seid.«
»Es spielt keine Rolle, ob Ihr mir glaubt oder nicht.« Er trat einen Schritt vor, nahe genug, um sie berühren zu können, wenn er wollte. Eine dünne, nur schwer zu erkennende Narbe verlief von der rechten Seite seines Kinns bis in sein schwarzes Haar. »Ich habe Euch die Wahrheit ohnehin nur gesagt, weil Ihr gefragt habt.«
Falls er ganz bewusst versuchte, sie einzuschüchtern, gelang ihm das sehr gut. Die Hände fest vor der Brust verschränkt, versuchte Jean, sich vor ihm abzuschirmen, aber sie war sich gar nicht sicher, ob ihre Magie bei einem Mann wie diesem überhaupt etwas bewirkte. »Ich möchte in der Tat die Wahrheit wissen, Captain«, sagte sie, um einen beherrschten Ton bemüht. »Selbst wenn sie meine Welt auf den Kopf stellen sollte. Wo habt Ihr meinen Vater kennengelernt? Und was war sein Verrat an Euch?«
»Ich bin in Malta geboren und schon sehr jung verwaist«, entgegnete er schroff. »Vor ungefähr zwanzig Jahren, am schlimmsten Tag meines Lebens, fanden Euer Vater und sein Freund, Sir Jasper Polmarric, mich in Valletta und behaupteten, ich hätte magische Kräfte. Sie erzählten mir von den Wächtern und sagten, sie würden mich mitnehmen und beschützen und erziehen.« Gregorio verzog den Mund. »Euer Vater versprach mir, mich nach Schottland mitzunehmen und mit seinen eigenen Kindern aufzuziehen.«
»Das klingt nach meinem Vater.« Jeans Eltern hatten schon oft Kinder von Wächtern bei sich aufgenommen, die ein vorübergehendes Zuhause brauchten. Simon, der Earl of Falconer, war auch ein solches Kind gewesen, nachdem er seine Eltern verloren hatte. Doch während Simon ein vielleicht etwas irritierender älterer Bruder für sie gewesen war, war es Jean bei diesem Piraten schier unmöglich, ihn sich in dieser Rolle vorzustellen. »Und was geschah, was Euch daran hinderte, nach Dunrath mitzukommen?«
»Auf dem Weg nach England wurde unser Schiff von nordafrikanischen Piraten angegriffen.« Gregorios tiefblaue Augen funkelten vor altem Zorn. »Ich wurde gefangen genommen. Als ich um Hilfe schrie und Euer Vater mich in den Händen von Piraten sah, wandte er sich einfach von mir ab. Er hat mir verdammt noch mal den Rücken zugekehrt!«
Jean sah ein lebhaftes, verstörendes Bild von einem Jungen vor sich, der um Hilfe schrie, während der Erwachsene, dem er vertraute, ihn im Stich ließ. Das Bild war so scharf, dass sie sich fragte, ob es direkt aus Gregorios Bewusstsein kam. Aber ihr Vater hätte sich nicht so verhalten. Nie im Leben. »Bei einem Kampf herrscht Chaos. Er hat Euch bestimmt nicht gesehen.«
»Er hat mir direkt in die Augen geschaut und sich eiskalt abgewandt«, entgegnete der Captain scharf. »Und war er nicht ein Magier? In den Wochen unserer Bekanntschaft hat er oft genug bewiesen, dass er meine Anwesenheit spüren konnte, wenn ich in der Nähe war. Er sah, wie ich von den Piraten
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