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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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wenn er Rotschwänzchen gesagt hatte. Er beschloß, es nicht mehr zu tun.
    Der Vater lag im Hospital. Er lag schon ein Vierteljahr. In einem hellen, luftigen Einzelzimmer. Werner besuchte ihn noch am selben Tag.
    „Ich muß mit Ihnen reden ...", begann der Arzt. Er machte ein ernstes Gesicht und nahm Werner beiseite. Er legte ihm seine Hand auf die Schulter. Er war ein alter Arzt, er hatte graues Haar und müde Augen.
    „Krebs!" sagte er. „Es ist hoffnungslos, Herr Zadorowski. Ihr Herr Vater wird noch eine Zeit leben, aber er wird unser Haus nicht mehr verlassen. Er bewohnt unser schönstes Zimmer. Er fühlt sich wohl darin. Wir werden dafür sorgen, daß er ohne Schmerzen stirbt. Er hat auch jetzt keine Schmelzen. Wir geben ihm Morphium."
    Die Operation hatte nichts mehr genutzt. Sie hatten ihm den Leib geöffnet und sogleich wieder zugenäht. Sie hatten ihm am zweiten Tag nach der Operation ein Holsteiner Schnitzel gegeben, und der alte Zadorowski war in dem festen Glauben, über den Berg zu sein. Er machte Pläne, als Werner bei ihm saß. Werner ertrug es nicht länger als eine Stunde.
    Er kaufte den Hansa, einen funkelnagelneuen, violett gespritzten Wagen. Die Leute in der Straße hielten ihn für einen Millionär. Er holte Franziska ab, am anderen Tag. Er parkte vor der Näherei, in der sie arbeitete, und vom Lehrmädchen bis zum Meister lag alles über die Fensterbretter gebeugt, als sie abfuhren. Er hatte zwei Wochen Ruhe. Franziska nahm Urlaub, und sie fuhren in den Schwarzwald. Fischbach und Kuckucksrufe, wenn die Sonne sank. Die Bäche mit Forellen und dunkle Tannen vor den Fenstern.
    Zum erstenmal hatte er wieder diesen biegsamen Körper mit der milchweißen Haut. Er ließ das Haar durch seine Finger gleiten. Franziska hatte feuchte Augen. Es fiel ihm auf, daß sie nicht fragte, ob er eine andere Frau gehabt hatte. Sie war sehr still, und er dachte: Sie heißen Madame Doris oder Meisje oder Franziska.
    „Was hast du die ganze Zeit getrieben?" fragte er.
    „Pläne gemacht", erwiderte sie, „Pläne für uns zwei. Und gespart. Ich habe achthundert Mark gespart."
    „Du bist eine gute Partie!" meinte er lachend. Und er fütterte sie mit Bananen und Orangen. Er kaufte ihr Kleider und Schuhe. Er stieg in den teuersten Hotels ab, und sie verbrauchten eine Menge von dem Geld, das er gespart hatte. Als er sie wieder verließ, sagte er ihr: „Ich werde dir eine Vollmacht schreiben. Wenn Vater stirbt, wirst du alles verkaufen, was uns gehört. Außer dem, was in meinem Zimmer ist Das nimmst du zu dir. Vater wird nicht mehr lange leben."
    Der alte Zadorowski starb, als Werner in Sofia gastierte. Sie waren auf Balkantournee. Die Nachricht kam an einem Abend, an dem Werner mit einer schwarzhaarigen Opernsängerin verabredet war. Sie hieß Melinda, und er sagte ihr nichts davon, daß sein Vater gestorben war. Er schickte Geld heim. Es waren ansehnliche Summen, denn Werner lebte sparsam, soweit er sich nicht mit Frauen abgab. Manchmal suchte er solche Frauen, die ihn freihielten. Er erinnerte sich ungern an Franziska. Seine Stimmung sank, wenn er einem Mädchen mit rotem Haar begegnete.
    Als sie heimkehrten, kündigten die Blätter an, daß die Karloff-Truppe ein Sensationsprogramm zusammenstelle. Es war zwar kein Sensationsprogramm, aber es war sehr gut. Sie hatten einen Polen dabei, der auf einem Drahtseil, vier Meter über dem Boden, Rad schlug. Es war im Jahr neunzehnhundertneununddreißig. Sie pfiffen den Polen im Wintergarten aus. Die Pfiffe kamen aus einer Ecke des Saales, dort saßen mehr als hundert Leute, die einer dem anderen aufs Haar ähnlich sahen.
    Der Pole hieß Edward. Er war jung, und er weinte, als er in seiner Garderobe saß. Werner tröstete ihn. Er holte eine Flasche Mampe und trank sie mit ihm zusammen aus. Sie verließen das Haus so, wie sie waren, in dunklen Anzügen, mit Puder und Schminke auf den Gesichtern, schwankenden Schrittes. Werner randalierte, und der Pole war still, mit traurigen, versonnenen Augen. Sie schliefen irgendwo am Kurfürstendamm in einem Zimmer, das zwei Huren bewohnten, die auf gute Kundschaft eingerichtet waren. Am Morgen verkündete der Manager ihnen, daß sie mit dem Programm nach Hamburg reisen würden.
    Die Zeitungen erklärten, daß Deutschland den Osten brauche und Polen nicht in der Lage sei, sein Land ordentlich zu verwalten, Edward sagte nichts dazu. Er sagte nur einmal zu Werner: „Wenn mein Vertrag abläuft, mache ich nicht weiter. Ich reise zurück

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