Die Stunde des Mörders: Roman (German Edition)
Stück, lässt ihn ihren knappen roten Spitzen-BH sehen – zwei Nummern zu klein und saumäßig unbequem, aber die Typen fliegen nun mal drauf –, und er lächelt. Ein bisschen. Sie achtet eben auf ihre Figur, und man sieht es. Ihr Teint lässt ein bisschen zu wünschen übrig, aber was soll’s? Das macht sie da, wo’s wirklich zählt, locker wieder wett.
»Willst du nicht einsteigen?«, fragt er sie. Und jetzt ist sie an der Reihe mit Nachdenken. Schließlich ist da vor ein paar Tagen diese alte Nutte zu Tode geprügelt worden. Aber es ist ein schickes Auto, und es schifft in Strömen. Und sie braucht die Kohle wirklich ganz, ganz dringend … Sie schlüpft hinein. Der Wagen strömt diesen wunderbaren Geruch nach neuem Leder und Plastik aus; die Polster sind sauber, der Innenraum makellos, ganz anders als diese Schrottkiste, mit der sie in der Gegend rumkutschieren muss. Das Ding muss ein Vermögen gekostet haben. Sie zieht sich den Gurt über die Brust und lässt noch mal ein bisschen rote Spitze sehen, und er lächelt. Er hat ein sympathisches Lächeln. Eine Sekunde lang schießt ihr diese Julia-Roberts-Pretty-Woman-Fantasie durch den Kopf – wie jedes Mal, wenn sie einen Freier trifft, der sie gut behandelt. Der sie nicht zu grob anfasst oder irgendwelche ekligen Sachen von ihr verlangt. Er würde sie beschützen, und sie müsste nicht mehr für Geld mit fremden Männern vögeln. Er erzählt einen Witz, und sie lacht, als er den Gang einlegt und in die verregnete Nacht hinausfährt. Er ist wirklich nett, das merkt sie. Was das betrifft, hat sie einen sechsten Sinn.
9
Es war kurz vor ein Uhr früh, und im Leichenschauhaus herrschte – wie passend – Totenstille. Die einzigen Geräusche waren das Quietschen von Logans Sohlen auf den Fliesen und das Summen der Deckenbeleuchtung. In der Mitte des Raumes standen die blitzblanken Seziertische unter dem riesigen Abluftventilator, der darauf wartete, den Geruch des Todes zu verscheuchen. Nur gut, dass das Ding besser funktionierte als der Dunstabzug in Logans Küche – der schaffte es nicht einmal, den Geruch von gebratenen Zwiebeln zu vertreiben, geschweige denn den nach verwesendem Labrador. »Hallo?« Eigentlich sollte das Leichenschauhaus rund um die Uhr besetzt sein, doch als er an der Verladerampe vorbeischlenderte, an den Kühlfächern, dem Sektionssaal und dem Abschiedsraum, sah er nirgendwo eine lebende Seele. »Hallo?« Endlich fand er jemanden im Büro der Rechtsmedizin. Sie saß mit dem Rücken zur Tür, die Füße auf dem Tisch, Kopfhörer auf den Ohren, las einen fetten Stephen-King-Thriller und schlürfte dazu einen Energiedrink. Logan streckte die Hand aus und tippte der Frau auf die Schulter. Ein schriller Schrei – und Stephen King und Limoflasche segelten durch die Luft, als sie aufsprang und herumwirbelte. » VERDAMMTE SCHEISSE ! WEGEN IHNEN HÄTTE ICH FAST ’NEN HERZINFARKT GEKRIEGT !« Logan zuckte zusammen, und sie streifte den Kopfhörer ab. »Mein Gott!«, sagte sie, während aus den Lautsprechern das metallisch zischende tsssk-tsssk-tsssk irgendeiner Krachmusik drang. »Ich dachte, es wäre …« Dann brach sie ab; offenbar wollte sie Logan gegenüber nicht zugeben, dass sie geglaubt hatte, die Toten hätten sich aus ihren Kühlfächern erhoben, um sie zu holen. Carole Shaw, MTA der Rechtsmedizin, etwas pummelig, nicht sehr groß, Anfang dreißig, langes, lockiges Blondhaar, kleine runde Brille und ein T-Shirt mit der Aufschrift PATHOLOGEN TUN’S MIT TOTEN ! unter dem weißen Laborkittel. Letzterer war jetzt mit klebrigen orangefarbenen Flecken verunziert.
»Gutes Buch?«, fragte Logan unschuldig.
»Scheiße. Ich hätte mir fast in die Hose gemacht …« Sie bückte sich, um ihr Buch vom Boden aufzuklauben, und fluchte, als sie sah, dass die Seiten mit der grellorangefarbenen Brühe getränkt waren. »Was wollen Sie hier eigentlich?«
»Der Labradortorso, der am Mittwochnachmittag zur Obduktion eingeliefert wurde. Haben Sie da schon die Ergebnisse?«
Sie schüttelte sich. »O Mann, an den erinnere ich mich nur zu gut. Verdammt, wie kommt es, dass immer Sie dahinterstecken, wenn hier ein halb verfaulter, eiternder Kadaver eingeliefert wird, den dann irgendeiner meiner bedauernswerten Kollegen aufschneiden muss?«
Logan lächelte nicht. Letztes Jahr waren es ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen gewesen, beide nicht viel älter als vier Jahre. Beide schon sehr lange tot. »Reines Glück, schätz ich mal«, sagte er
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