Die Tiefe einer Seele
tagsüber gelähmt hatte. Unfähig gemacht hatte, sich zu irgendetwas aufzuraffen. Und dennoch hatte sie genau das versucht. Jeden Tag aufs Neue hatte sie diesen Kampf mit sich ausgefochten, manchmal gut, manchmal weniger gut. Hatte sich verstellt, es nicht zugelassen, dass jemand etwas davon merkte. Weil sie so nicht hatte sein wollen, weil sie so nicht hatte fühlen wollen.
Fröstelnd zog sie den Reißverschluss ihres Anoraks hoch und kauerte sich weiter in die Kuhle hinein. Es lag Schnee in der Luft. Schnee! Den hatte sie doch als Kind immer so geliebt. Selten hatten sie ihn auf Spiekeroog zu Gesicht bekommen, aber wenn er mal vorbeischaute, dann hatte sie seine Anwesenheit genossen. Hatte wilde Schneeballschlachten mit ihren Brüdern ausgetragen, bei denen sie zumeist die Oberhand behalten hatte. Ja, sie war ein fröhliches und selbstbewusstes, kleines Mädchen gewesen. Eines, das Schnee liebte. Heute war sie nicht fröhlich, erst recht nicht selbstbewusst, und ob Schnee fallen würde oder nicht, das war ihr schrecklich egal.
Gleichgültigkeit, Traurigkeit, Panik, das waren die Gefühle, die sie in der Hauptsache seit dem März 2003 beherrschten. Und Scham! Eine grenzenlose Scham, weil sie so viel Unglück über ihre Familie gebracht hatte. So viel Schande! Besonders über ihren Vater. Niemand hatte ihr seinerzeit gesagt, dass er in seiner Gemeinde verdächtigt wurde, sie missbraucht zu haben. Sie hätten ihr das auch wohl bis in alle Ewigkeit verschwiegen. Was sie nicht bedacht hatten, dass sie zwar so irre war, sich mit einem Elektrokabel erdrosseln zu wollen, aber immerhin noch klar genug, um einen Computer zu bedienen. Das war sogar ein Teil der Rehabilitation in der Privatklinik in Aurich gewesen. »Lerne, Dich durch das Surfen im Internet zu entspannen!« hatte dieser Therapieansatz geheißen. Nun, nachdem sie auf der Webpräsenz der »Ostfriesischen Nachrichten« von dem evangelischen Geistlichen einer kleinen Inselgemeinde gelesen hatte, der in Verdacht stand, seine Tochter vergewaltigt zu haben und diese sich infolgedessen das Leben nehmen wollte, da war sie alles andere als entspannt gewesen. Wobei ihre behandelnden Ärzte ihre Reaktion darauf als großen Fortschritt in ihrer Gesundung gesehen hatten. Denn zum ersten Mal, seitdem sie in der Einrichtung untergebracht war, hatte sie überhaupt so etwas wie eine überschwängliche Gefühlsregung gezeigt.
In den Wochen nach dem Suizid-Versuch hatte sie sich selbst abgeschaltet, sich vollkommen außer Betrieb genommen. Gar nichts zu empfinden war so viel besser, als das, was sie zu der Tat getrieben hatte. Aber zu lesen, dass ihr Vater ein Kinderschänder sein sollte, das hatte sie aus ihrer Lethargie gerissen. Hatte sie zornig werden lassen, und sie hatte ihre ganze Wut hinausgeschrien in diese verdammte und so ungerechte Welt. Denn es gab auf dieser Erde mit Sicherheit nicht viele Menschen, die so herzensgut und liebevoll waren wir ihr Vater. Das hatte er einfach nicht verdient. Nur schwer hatte sie sich damals beruhigen können. Eigentlich erst, als ihre Eltern vor ihr standen und sie begriff, dass die zwei ihr nicht böse waren deswegen. Trotzdem hatte sie das so nicht hinnehmen wollen, hatte ihrem Vater gesagt, dass sie das wieder geradebiegen würde. Dass sie am Sonntag in das Gotteshaus auf Spiekeroog gehen würde, um zu sagen, dass er nichts getan habe. Er hatte das nicht zulassen wollen. Hatte gemeint, dass sie sich keine Sorgen darum machen solle, er würde das schon wieder hinbekommen. Hatte er ja auch. Zumindest fast. Hatte jeden einzelnen Inselbewohner aufgesucht und sich verlorengegangenes Vertrauen mühselig zurückerkämpft. Überwiegend war ihm das gelungen, doch eben nicht auf ganzer Linie. Und so gab es heute noch, nach über fünf Jahren, Menschen, die zwar nicht mit dem Finger auf ihn zeigten, ihn aber mieden wie eine ansteckende Krankheit. Ihr Vater ließ sich nicht anmerken, dass ihn das verletzte, doch sie wusste nur zu gut, dass es so war, und daran war sie schuld. Ganz alleine sie! Das würde sie sich nie vergeben können.
Oder ihre Mutter, die seit jenem Tag beschlossen hatte, das Schreiben einzustellen. Auch das hatte man ihr vorenthalten wollen. Aber schon bald, nachdem sie aus Aurich nach Hause zurückgekehrt war, war es ihr klar geworden. Denn früher hatte ihre Mutter jede freie Sekunde des Tages genutzt, um in die Tasten zu hauen. Das war vergessen, heute backte sie lieber einen Kuchen oder strickte mit viel Einsatz, aber
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