Die Tochter des Teufels
Ryschikow kaute an seinem Bratapfel.
»Sie haben nichts gehört?« fragte er. »Natürlich … hier hat man keine Zeitung, und die Nachrichten brauchen lange bis in die Urwälder. Unsere Sache, die Rettung Rußlands vor dem Bolschewismus, die Einsetzung eines neuen Zaren, scheint verloren zu sein. Die Roten Armeen beherrschen immer mehr das Land. Admiral Koltschak zieht umher und kämpft wie ein angeschossener Tiger – aber er hat im Land, vor allem bei den Bauern und Arbeitern, keine Freunde mehr. Unsere weißen Truppen werden zerrieben. Das Geld geht aus. Die Munition wird knapp. In Moskau herrscht Lenin mit eiserner Hand und einer teuflischen Redekunst, aus dem Kaukasus zieht ein Mann mit Namen Stalin heran … durch die Steppe jagen die Reiterheere eines Budjenny und treiben unsere Soldaten wie Karnickel vor sich her … Rußland bricht auseinander, Madame. Die rote Welle ertränkt uns alle …«
»Das habe ich geahnt«, sagte Nadja leise. »Und nun, Exzellenz?«
»Ich habe von Koltschak unbegrenzte Befehlsgewalt bekommen.« Ryschikow lächelte müde. »Worüber soll ich befehlen? Mir untersteht eine Division, von der die Hälfte desertieren wird, wenn die Rote Armee uns angreifen sollte. Aber ich habe dadurch die Möglichkeit, Ihnen zu danken, daß Sie von unserer Zarin wie ein eigenes Kind erzogen wurden und mir – vielleicht zum letztenmal – die Erinnerung an Zarskoje Selo wachrufen.« General Ryschikow straffte sich im Sitzen. Sein langer grauer Schnauzbart zuckte.
»Madame«, sagte er feierlich. »Ich erkenne die Unschuld Ihres Mannes. Ich spreche ihn von allen Anklagen frei. Ich rehabilitiere ihn. Ich werde im Lager vor allen Offizieren, Mannschaften und Sträflingen Nikolai Georgijewitsch Gurjew wieder in den Rang eines Hauptmanns erheben, ihm eine Uniform bringen und ihm selbst Degen und Pistole zurückgeben. Ihre Verpflichtung als Sträflingsfrau habe ich bereits in Tschita zerrissen. Mit anderen Worten, Madame: Sie sind frei!«
»Frei …« Nadja saß starr hinter dem Tisch. Vor ihren Augen kreiste die Stube, tanzte der festgemauerte Ofen. »Wir … wir können zurück nach Wladiwostok … Ich kann zu meinem Kind … Ich kann Nikolai mitnehmen …«
»Ja. In allen Ehren.« General Ryschikow goß sich ein Glas Birkenwein ein, seine Hand zitterte dabei heftig. »Nur weiß ich nicht, wie Sie zurückkommen werden. Die Strecke ist unterbrochen. Zwischen Tschita und Wladiwostok haben die Bolschewisten Bahn und Straßen besetzt. Es gibt nur eine Möglichkeit: quer durch Wälder, Steppen und Felsen. Wir sitzen hier in einer riesigen Falle. Es ist eine hoffnungslose Situation, Madame …«
9
Am nächsten Morgen ließ Hauptmann Birjukow das gesamte Straflager II auf dem Appellplatz antreten. »In Sonntagskleidung!« hieß der Befehl. »Gewaschen und rasiert!«
Hauptmann Birjukow inspizierte seine Sträflinge. Er meckerte an einigen Leuten herum, die noch Lehmflecke auf den Steppjacken hatten, schickte vier zurück in die Baracke, die sich nicht rasiert hatten, und schrie seine Wachkompanie an, die – vom Exerzierdienst völlig entwöhnt – das Probepräsentieren sechsmal verpatzte.
Er übte noch immer, als ein Reiter die Ankunft der Gäste meldete. Hauptmann Birjukow faltete gottergeben die Hände, zog dann seinen breiten Säbel, stellte sich in die Mitte des Karrees und hob die Klinge hoch in die Luft. Die Sonne glitzerte auf dem blanken Stahl, die erste Reihe vor Birjukow wurde geblendet.
»Das ganze Lager Achtung!« brüllte er.
Die vierhundert Sträflinge standen stramm, die Wachkompanie krachte mit den Stiefelabsätzen. Erstaunlich, plötzlich klappte es vorzüglich.
Durch das breite Tor ritt eine Schwadron Husaren. Sie verteilten sich entlang der Palisadenwand … ein herrliches Bild von edlen Pferden und fast vergessenen Uniformen. Dann folgte eine Kalesche, aus der eine lange, dürre Gestalt in einem flatternden Mantel stieg. Ein Schlitten mit einer Holzkiste darauf wurde hinter ihm hergezogen.
»Der Alte!« sagte der Graf leise. »Will uns der gute Ryschikow als Osterhase bescheren?«
Das Tor schloß sich. Das Schnauben der Pferde, das Klirren der Waffen und des Zaumzeugs waren die einzigen Laute im Lager. Gurjew durchflog ein Zittern. Er hatte in der Kalesche, aus der Ryschikow gestiegen war, eine schmale, in Pelze gehüllte Gestalt bemerkt. Sie drückte sich in den Sitz, als wolle sie nicht gesehen werden.
Nadja, durchfuhr es Gurjew. Es ist Nadja! Im Wagen des Generals. Was ist
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