Die tote Schwester - Kriminalroman
Kofferraum und öffnete ihn. Sie schritt zu Lenas Gepäckwagen und begann zügig, die großen Reisetaschen von Zbigniew und Lena in den Kofferraum zu räumen. Dann stieß sie den leeren Gepäckwagen zu einigen anderen, sodass er nicht mehr im Weg herumstand. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz des Wagens, die Tür schloss sich.
Der Wagen fuhr los, verließ den sichtbaren Bereich der Kamera. Fast kam es Zbigniew merkwürdig vor, dass die Kamera nicht hinter dem Wagen her schwenkte, sondern weiterhin lakonisch ihren nun nicht mehr bedeutsamen, fixen Bildausschnitt zeigte.
»Menschenraub«, sagte der Polizist.
In Zbigniews Hirn überschlugen sich die Gedanken. So sehr, dass er innerlich »Stopp!« schreien wollte, um der Überflutung in seinem Kopf Einhalt zu gebieten. Um nicht verrückt zu werden.
Lena.
Dann war es schwarz.
Alles war einen Moment lang wie ausgeblendet.
Es passierte etwas mit ihm.
Ein Schalter wurde in ihm umgelegt. Ein großer Hebel, der von links nach rechts gelegt wurde, ihn in einen ganz neuen Modus brachte.
Es war, als ob sein Verstand neu eingeschaltet wurde.
Eine seltsame Klarheit ergriff ihn, eine Nüchternheit, die alle anderen Gedanken fortgespült hatte. Der körperliche Schwindel, er spielte keine Rolle mehr. Zbigniew war nur noch Geist.
»Das ist der Teil, wo jeder mit dem Auto hinkann?«, hörte Zbigniew sich zum Überwachungsbeamten sagen.
»Ja, der normale Ankunftsbereich.«
Die Täter würden das Flughafengelände längst über die Zubringerautobahn verlassen haben.
»Gibt es weiterführende Kamerafeeds?«
»Ja, aber die enden an der Ausfahrt vom Flughafen. Zumindest unsere.«
»Und Ton gibt es vermutlich weder drinnen noch draußen?«, fragte Zbigniew.
»Das dürfen wir gar nicht.«
Zbigniew nickte.
Der Polizist neben ihm räusperte sich.
»Kannten Sie die Person, die Ihre Freundin zum Wagen begleitet hat?«, fragte er.
»Nein.«
»Gibt es irgendwelche familiären Umstände, irgendwelche Probleme mit Ihnen oder der Familie, die einen derartigen Vorfall erklären könnten?«
»Nein.«
Zbigniew saß auf heißen Kohlen, aber ihm war klar, dass der Beamte diese Fragen stellen musste. Die meisten Vergehen dieser Art waren familiären Ursprungs und lösten sich innerhalb weniger Stunden wieder auf.
»Hat Ihre Freundin irgendeinen Migrationshintergrund? Beziehungsweise ihre Verwandten oder Sie?«
»Nein, weder noch. Alles nichts.«
Zbigniew wollte weitersprechen, doch der Beamte unterbrach ihn.
»Ihr Name? Zbigniew? Das ist doch nicht deutsch?«
Es war nicht zu fassen.
Seine Mutter. Seine verdammte Mutter, die diesen Namen durchgesetzt hatte, gegen jeglichen gesunden Menschenverstand.
»Es gibt ein paar polnische Wurzeln, aber das zählt hier wirklich nicht, ja?«
Der Beamte schien nicht überzeugt. Bevor er etwas sagen konnte, redete Zbigniew weiter.
»Ich garantiere Ihnen, mit familiären Umständen lässt sich dieser Menschenraub nicht erklären. Hier geht es um etwas anderes.«
»Um was denn? Haben Sie eine Idee?«
Zbigniew schwieg. Verschiedene Gedanken schossen durch sein Hirn, aber er konnte sie noch nicht ordnen.
Der Polizist wartete kurz, dann klopfte er auf den Tisch, wie um einen Schlusspunkt unter das Gespräch zu setzen.
»Gut. Ich werde der Einsatzleitstelle Bescheid geben.«
»Ist das nicht Sache der Bundespolizei?«, fragte der Überwachungsbeamte.
»Nein. Der Menschenraub fand draußen vor dem Flughafen statt, nicht im Flughafengebäude«, sagte der Polizist. »Kriegen wir eigentlich das Autokennzeichen von dem Wagen?«
Der Überwachungsbeamte fuhr das Video zurück.
»Könnte gehen.«
Er vergrößerte einen Bildausschnitt. Das Kennzeichen war zwar sehr unscharf, aber erkennbar.
Der Polizist räusperte sich. Er sprach fast leise, sehr konzentriert.
»Gut. Ich werde sofort eine Fahndung nach dem Wagen einleiten. Ein dunkelblauer Opel Astra älteren Baujahrs, amtliches Kennzeichen BN - DL 256.«
Zbigniew nickte.
Der Polizist funkte die Einsatzleitstelle an. Er erklärte die Situation mit präzisen Worten. Zbigniew wusste, was nun ablief – die Leitstelle würde den Einsatz von Köln-Kalk aus organisieren, eine Fahndung nach dem Wagen würde sofort eingeleitet werden. In solchen Fällen durfte die Polizei auch ohne richterliche Verfügung zur Tat schreiten, allerdings musste sie diese im Nachhinein erhalten. Wenn sie dann verweigert wurde, weil zum Beispiel keine Gefahrenlage vorlag, bekamen die Polizisten große Probleme und
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