Die Trugburg
schob, die so dick war, daß drei kräftige Männer Schulter an Schulter auf ihr stehen konnten. Er drehte sich um und sah den Halsgraben unter sich klaffen, und auf seiner gegenüberliegenden Seite die Schatten der Krieger. Ihre Rufe zum Turm bewiesen, daß sie wahrhaftig nichts bemerkt hatten.
Dies war also geschafft. Vor Mythor lag der Burghof. Rechts schmiegten sich die Marställe, Unterkünfte für die Knochenpferde der Mangoreiter und vielleicht noch anderes Getier, an die Ringmauer. Links lag das Gesindehaus, und ihm gegenüber drückte sich das Herrschaftshaus an den viereckigen, erdrückenden Bergfried. Mythor wurde fast schwindlig, als er an ihm heraufschaute. Das Dach war in den finsteren Nebeln nicht mehr zu sehen. Wie viele Krieger mochten hinter den vorkragenden Erkern und Schießscharten verborgen liegen?
»Der Palas«, flüsterte Gesed. »Das Herrschaftshaus, Mythor! Dort lebt die Hexe.« Es war, als würde sich Gesed wie ein Wurm winden, bevor er zugab: »Ja, ich begehrte die Eroice einmal. Ich war nur ein Jüngling und hatte Erzählungen gehört, die andere anderen überliefert hatten. In ihnen wurde Eroices vormalige Schönheit gepriesen, und zwar von jenen Aegyr, die ihr noch entkommen konnten. Daher weiß ich um diese Burg Bescheid. Nur darum, Mythor!«
Was wirst du mir noch eröffnen? Mythors Blicke suchten den Burghof und die Gebäude nach einem Anzeichen von Leben ab. Alles war düster und wie tot. Es fiel ihm schwer, daran zu glauben, daß sich hier überhaupt jemand aufhalten konnte. Nur weiter hinten, wo der Torbau mit seinen Zinnen und Türmen, mit der Zugbrücke und den Fallgittern lag, erklangen ab und an die vom Wind herübergetragenen Stimmen der Mangokrieger-Hauptmacht.
»Du mußt in den Herrschaftsbau, über den Hof, Mythor. Was ich weiß, kann falsch überliefert sein. Ich melde mich, sobald ich mir sicher bin.«
Es klang ehrlich. Mythor aber kannte kein Halten mehr. Denn plötzlich war es ihm, als würde Tallias flehende Stimme durch das Geheul der gefangenen Seelen klingen, das er mittlerweile schon gar nicht mehr wahrnahm. Und sie rief seinen Namen. Wie Tallia die Düsternis des Waldes aufgerissen hatte, schien sie allein mit ihrem Rufen einen Keil in die finsteren Nebel über der Burg zu treiben.
Es kam vom Palas herüber.
Mythor kletterte an der Ringmauer herab. Einmal außer Sicht der draußen postierten Mangokrieger, ließ er die vielleicht übertriebene Vorsicht fahren, ohne jedoch leichtsinnig zu werden. Beobachtete Eroice ihn schon von einem der dunklen Söller aus?
Er hatte nicht erwarten können, daß dies ein Spaziergang würde. Er ließ sich aus einer Höhe von zwei Körperlängen in den Hof fallen und warf sich in den Schatten eines dick ummauerten Brunnens.
Die Stimme verklang, so als ob eine plötzliche verzweifelte Hoffnung erloschen wäre. Sah Tallia ihn? Verriet sie ihn dann ohne ihr Wollen an die Hexe?
»Eroice ist überall, und sie hat tausend Augen.«
Waren das Geseds Worte gewesen? Kamen sie von Tallia – oder aus den düsteren Mauern selbst?
Oder noch schlimmer: Waren es die Worte der untot Umherstreifenden, die Mythor hämisch beobachteten und ihm dem Verderben zutreiben wollten? Plötzlich war es ihm, als drängen die Schatten von überallher auf ihn ein. Dies war ein verwunschener Ort. Dies war…
Mitten in Mythors Anflug von Angst hinein drang der Gesang einer überweltlich schönen Stimme – Tallias Stimme. Das Klagen aber, das sie vortrug, jagte Mythor einen Schauder nach dem anderen über den Rücken:
» Oh, käme er nur, den ich im Traum ich gesehn! Der Traum wurde wahr, denn ich fand ihn im Wald! Ein kräftiger Recke, und rein war sein Herz. Oh, käme er jetzt und bestrafte die Hex’. In den Brunnen so tief, daß herauskäm’ sie nie, würde werfen er sie, und ich frei wär’ für ihn… «
Die Klänge einer Harfe schienen Tallias Gesang zu begleiten. Mythor aber hörte nur ihre Worte und glaubte zu wissen, daß sie eine Botschaft für ihn bereithielten.
Der Brunnen?
Sicher hörte Eroice den Gesang. Vielleicht hatte sie Tallia auch zum Verstummen gebracht. Der Zauber der Stimme ließ die Leidenschaft für die rätselhafte Schöne in ihm wieder so hochschlagen, daß Mythor nur noch den einen Gedanken hatte, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.
Ganz weit im Hintergrund seines Geistes dachte er an Ilfa und den eigentlichen Grund, aus dem er sich der Hexe hatte stellen wollen.
Noch einmal zögerte er und wartete auf eine
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