Die Zarin (German Edition)
konnten Karossen, Pferde und auch Lastkarren die Uferstraßen nicht mehr passieren. In der Nacht schon standen der Hof des Winterpalastes und das Erdgeschoß des Schlosses unter Wasser. Die Fußleute und Diener stakten mit nassen Socken durch das Gebäude, und der Geruch nach Moder machte sich bereits nach wenigen Stunden bemerkbar. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel zusammen, und es regnete, als sollte es eine zweite Sintflut geben. Der zornige Fluß türmte sich zu einer Sturmflut auf. Seine Wellen brachen die Türen der Häuser ein und rissen die Steine der Mauern mit sich fort. Der Fluß kam aus Fenstern und Kaminen geschossen. In den überfluteten Straßen trieben aufgequollene Leiber von toten Tieren und sogar Menschen. Die Newa spülte in den Tempel des Janus, der für die Feiern von Nystad aufgebaut worden war, und brach ihn in Stücke wie einen morschen Ast. Mehr als hundert Leute ertranken, und Krankheit und Seuche brachen in der Stadt aus. Peter ließ Deiche bauen, und die Menschen formten sich zu langen Ketten, die das Wasser mit allen möglichen Geräten aus ihren Häusern schöpften. In ihrem Unglück klammerten sich die Menschen an ihre Gewohnheiten und eine wirre Alltäglichkeit: Sie spielten Karten auf den Dächern ihrer Häuser und wateten bis zu den Oberschenkeln in den Fluteten zu ihrem überschwemmten kabak .
Dennoch feierte Peter an dem Tag, an dem in jenem Jahr der erste Schnee fiel, wiederum den Namenstag des Sankt Andreas mit allem Glanz. Maria Kantemir beugte sich während des Essens nahe zu ihm und wisperte ihm heitere Geschichten über das Malheur der Flutopfer in sein Ohr. Er lachte so, daß er sein Essen ausspuckte. Die Prinzessin von Moldawien nahm eine Gerte und fuhr Peters Narren D’Acosta und Balakirew damit über die Beine. »Hört ihr denn nicht, der Zar will über die Flut lachen! Na los, in euer Boot, oder ich lasse euch kielholen!« befahl sie mit lauter Stimme. Peter hustete noch immer und lachte nun wieder, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Ich verfolgte, wie D’Acosta und Balakirew hastig einen kleinen Tisch umdrehten und hineinsprangen. Sie sahen so wirklich aus wie zwei Schiffbrüchige auf der Newa! Sie führten allerlei Verrenkungen auf, welche die Musik begleitete. Allerdings blieb mir das Lachen im Hals stecken, wenn ich beobachtete, wie Maria Kantemir mit ihrer Gerte in der Hand um die beiden herumstrich. Sie sah dabei so gefährlich aus wie eine Wildkatze in den Bergen ihrer Heimat. Jedes Mal, wenn sie sich dem Boot näherte, wurden die beiden Narren blaß vor Angst und überschlugen sich noch aufgeregter. Erst als Peter schließlich die Hand hob und keuchend vor Lachen sagte: »Genug, genug, ich kann nicht mehr!« ließ sie von ihnen ab. Ehe sie an ihren Platz zurückkehrte, küßte Menschikow ihr die Hand.
Beide Narren krabbelten aus dem Tisch und wurden sofort von Peters und meinen Zwergen umringt. Ich konnte sehen, wie ihnen die Hände zitterten, als sie eine Adlertasse Branntwein in Empfang nahmen.
Als ich am Abend in meine Gemächer zurückkehrte, wartete dort Ulrike Villebois auf mich. Sie half mir aus dem schweren Kleid, meinem Unterrock und meiner Leibwäsche. Ich wollte nichts mehr am Leib haben. Als sie noch meinen Schmuck löste, atmete ich erleichtert auf. Ich ließ mich nackt vor meinem Spiegel nieder. Der Kachelofen wärmte den Raum angenehm. Ulrike öffnete das Necessaire, in dem Kämme und Bürsten aus Elfenbein, Silber und Roßhaar lagen. Sie griff zu einem der Gläser, schraubte den silbernen Deckel ab und wusch mein Gesicht mit Rosenwasser ab. Danach ließ sie mein Haar lose über meine matten Schultern und meine Brüste fallen und rieb mir sanft die Schläfen mit einer indischen Paste aus Minze und Nußöl. Im Spiegel konnte ich mein Bett erkennen, auch wenn die Flammen des Feuers den Raum in ein Halbdunkel voller Schatten hüllten. Peter blieb ihm seit meiner letzten Geburt fern. Man tuschelte am Hof von den Liebeskünsten der Kantemir: Die Rede ging von Tränken, die sie Peter mischte. Angeblich streute sie ihm auch Pulver über sein Essen: Darja Menschikowa sagte, es handele sich dabei entweder um das gemahlene Horn eines afrikanischen Panzertieres oder um das getrocknete und zerstoßene Geschlecht eines indischen Tigers. Es hieß, daß er sie nach dem Genuß des Pulvers in derselben Nacht drei- oder viermal nehmen konnte.
Ich schloß die Augen. Das Mondlicht der Novembernacht floß in mein Herz. Ulrike Villebois näherte
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