Die Zeit: auf Gegenkurs
sagte Cheryl Vale. »Der Anarch war so ein guter Mensch.«
»Abwarten, abwarten«, riet Sebastian. »Warten wir ab, was uns Lotta aus der Bibliothek mitbringt. Vielleicht ist Roberts gar nicht so schlimm. Vielleicht können wir ein völlig legales, ethisch einwandfreies Geschäft mit ihm machen.« Sein Instinkt sagte ihm noch immer, daß sie vor einem möglicherweise gigantischen Abschluß standen.
»Der Gedanke, noch einmal in die Bibliothek gehen zu müssen, wird Lotta gar nicht gefallen«, wandte Pater Faine ein. »Dieser Ort hat sich für sie zu einem Trauma entwickelt.«
»Sie hat es schon einmal getan«, erinnerte Sebastian. »Und es hat sie nicht umgebracht.« Aber insgeheim fühlte er sich schuldig; vielleicht sollte er selbst gehen. Aber – die Bibliothek verwirrte auch ihn. Möglicherweise, dachte er düster, hatte er deshalb seine Frau mit den Nachforschungen betraut … was eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre. Und Lotta mußte das
wissen; trotzdem war sie gegangen.
Diese Eigenschaft machte sie anziehend. Und gleichzeitig eröffnete sie eine Möglichkeit, sie auszunutzen, eine Möglichkeit, deren er sich bewußt sein und die er verwerfen mußte. Die Entscheidung lag bei ihm, nicht bei ihr. Manchmal hielt er der Versuchung stand und manchmal, wie im Falle der Bibliothek, gab er seinen eigenen Ängsten nach; er schonte sich und ließ sie leiden. Und dafür haßte er sich zeitweise … wie, bis zu einem gewissen Grad, in diesem Moment »Da ist noch ein Punkt, den Sie vielleicht noch nicht berücksichtigt haben, Sebastian«, sagte Pater Faine. »Aus menschlicher Eifersucht heraus mag Ray Roberts gegen die Wiedergeburt des Anarchen Peak sein, aber in seiner Organisation gibt es vielleicht einige, die Peaks Rückkehr freudig erwarten.«
»Eine Splittergruppe«, brummte Sebastian nachdenklich.
»Möglicherweise können Sie über Tinbane, Ihren Freund bei der Polizei, mit ihnen Kontakt aufnehmen.« Pater Faine drehte sich zu R. C. Buckley um. »Mir scheint, das ist Ihre Aufgabe; dafür werden Sie bezahlt.«
»Gewiß, gewiß«, stimmte R. C. zu und nickte heftig; er zog sein Notizbuch heraus und kritzelte etwas hinein. »Ich kümmere mich darum.«
Bob Lindy, der über Kopfhörer mit dem Meßgerät in Verbindung stand, das Sebastian am Grab des Anarchen zurückgelassen hatte, sagte plötzlich: »He, ich glaube, Sie haben recht. Ich empfange Herzschläge; schwach und unregelmäßig, wie Sie gesagt haben, aber sie werden stärker.«
»Lassen Sie mich hören«, bat R. C. Buckley und ging ungeduldig zu Lindy hinüber. Wie Sebastian hatte er Blut geleckt. »Ja«, nickte er nach einer Weile; er streifte den Kopfhörer ab und reichte ihn Pater Faine.
»Graben wir ihn aus«, sagte Sebastian unvermittelt. »Warten wir nicht länger.«
»Das verstößt gegen das Gesetz«, erinnerte ihn Pater Faine, »mit der Ausgrabung zu beginnen, bevor man klar und deutlich die Stimme des Altgeborenen hört.«
»Gesetze«, schnaubte R. C. verächtlich. »Okay, Pater, wenn Sie sich strikt an das Gesetz halten wollen, dann lassen Sie uns Verbindung mit Ray Roberts aufnehmen; nach dem Gesetz haben wir das Recht, an den höchsten Bieter zu verkaufen. Das ist in dieser Branche die übliche Geschäftspraxis.«
Von ihrem Platz am Vidfon aus rief Cheryl Vale: »Mr. Hermes, ich habe hier ein Ferngespräch für Sie.« Sie legte die Hand auf den Hörer. »Ich weiß nicht, wer es ist. Ich weiß nur, daß der Anruf aus Italien kommt.«
»Italien«, wiederholte Sebastian verblüfft. »Sehen Sie in unserem Bestandsverzeichnis nach, ob wir jemanden italienischer Abstammung haben«, befahl er R. C. Buckley. Er trat neben Miss Vale und nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Mit wem spreche ich?«
Das Gesicht auf dem kleinen Bildschirm war ihm ebenso unbekannt wie Cheryl Vale. Ein Weißer mit langen, gewellten schwarzen Haaren und stechenden, durchdringenden Augen. »Sie kennen mich nicht, Mr. Hermes«, sagte der Mann, »und bis zu diesem Moment hatte ich noch nicht das Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen.« Er sprach mit einem leichten italienischen Akzent, und sein Tonfall war höflich, bedächtig. »Ich bin hocherfreut, Sie kennenzulernen, Sir.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Sebastian. »Sie sind Signor …?«
»Tony«, sagte der dunkelhaarige Italiener. »Lassen wir es dabei bewenden; mein Nachname tut im Moment nichts zur Sache. Wir haben erfahren, Mr. Hermes, daß Sie die Besitzrechte an dem verstorbenen Anarchen
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