Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland (German Edition)
Chemnitzer Skinhead-Bande «88er» zu Neonazis in Jena gesagt haben, dass die Flüchtigen «kein Geld mehr» benötigten, da sie jetzt «jobben» würden. Darum gibt Ralf Wohlleben in Jena die Parole aus: «Die drei brauchen keine Spenden mehr, die haben in der Zwischenzeit viele Aktionen gemacht.»
Die erbeuteten fast 70000 Mark stecken Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in ihre Ausrüstung. Sie bestellen bei ihren Helfern in Jena ein Motorrad und eine Waffe: «Eine schussbereite Handfeuerwaffe müsse her, und zwar eine mit Schalldämpfer. Möglichst ein deutsches Fabrikat», erinnert sich der Unterstützer Carsten S. später an den Auftrag.
Carsten S. begibt sich in die Wagnergasse in Jena. Hier betreibt der einschlägige und stadtbekannte Rechte Andreas S. den Neonaziladen «Madley». Der Ladeninhaber verspricht, dass er sich «mal umhören» werde. Zwei Wochen später trifft man sich wieder – konspirativ im roten Renault Clio des Ladenbesitzers.
Carsten S. übergibt 2500 DM in bar und bekommt dafür eine in ein Tuch eingewickelte Pistole. Erst später, in der Wohnung von Ralf Wohlleben, wickeln die Neonazis die Waffe mit dem Schalldämpfer aus. Dann fährt Carsten S. nach Chemnitz und übergibt Ende 1999 die Pistole in einem McDonald’s-Imbiss an Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Es ist eine tschechische Selbstladepistole Modell 83, Kaliber 7,65 Millimeter Browning, Seriennummer 034678. Eine Česká.
Im September 1999 treffen sich Verfassungsschützer aus Bund und Ländern, Kriminalhauptkommissare der LKAs und des BKA sowie Mitarbeiter des Innenministeriums und der Generalbundesanwaltschaft im Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln. Regelmäßig gleichen die Behörden bei solchen «Bund-Länder-Tagungen» ihre Erkenntnisse über rechtsextreme Terroristen und fremdenfeindliche Gewalt ab.
Gleich zu Beginn berichtet ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz über das Lagebild. Auf Nachfrage betont er, es gebe «derzeit keine Ansätze für eine ‹braune RAF›. Der Szene mangelt es hierzu an Planung, Logistik und vor allem an einer zielbildenden Ideologie.» Die Neonaziszene würde «einen planmäßigen, auf Dauer angelegten terroristischen Kampf zur Durchsetzung politischer Ziele» nicht akzeptieren. Darum würde einer Terrorzelle das Unterstützerumfeld fehlen, erklärt der Verfassungsschützer. «Eine ‹Braune-Armee-Fraktion› existiert nicht.»
Nur wenige Wochen nach dieser Tagung verfolgen Verfassungsschützer aus Thüringen Unterstützer des Trios in Chemnitz. Am 6. Mai 2000 fahren sie einem Pärchen beim Einkaufen hinterher und landen dann in der Bernhardstraße, wo der Mann und die Frau wohnen. Hier sollen sie angeblich auch manchmal Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe treffen. Die Verfolger beziehen Stellung. Von der anderen Straßenseite gegenüber dem Haus schießt ein Beobachter des Geheimdienstes gegen 19 Uhr ein Foto, auf dem ein junger Mann zu erkennen ist, mit schwarzem T-Shirt und kurzgeschorenem Haar. Es könnte Uwe Böhnhardt sein, doch sicher sind sich die Verfassungsschützer nicht.
Erst neun Tage später werden sie das LKA bitten, bei der Identifizierung zu helfen. Das LKA wiederum fragt das BKA. Dort ist man sicher, dass der Mann auf dem Bild Uwe Böhnhardt ist. Wertvolle Zeit ist da schon vergangen. Und nun dauert es noch einmal Wochen, bis der zuständige Verfassungsschutz in Sachsen aus Thüringen um Amtshilfe gebeten wird. Erst am 7. Juli 2000 observieren die Sachsen die Bewohner der Chemnitzer Bernhardstraße und hören ihre Telefonate mit. Nach drei Tagen brechen sie die Überwachung ohne Erfolg wieder ab.
24
Nürnberg, 9. September 2000
Der Arbeitstag beginnt sehr früh für Enver Şimşek an diesem Samstag, den 9. September 2000. Der 38-jährige Mann mit dem dichten schwarzen Haar und dem buschigen Schnurrbart ist selbständig. Und weil heute Not am Mann ist, muss er selber mehr mit anpacken als sonst. Şimşek lebt seit vier Jahren im hessischen Schlüchtern und betreibt gemeinsam mit seiner Frau einen Blumengroßhandel. Außerdem verkaufen sie in Hessen und Bayern an einigen Stellen auch selbst Blumen.
Gerade sind die Şimşeks von einem sechswöchigen Urlaub zurückgekehrt. Mit seiner Frau und den beiden Kindern ist Enver Şimşek durch die neue Heimat Deutschland gereist. «Ihr sollt das Land kennenlernen», hatte er ihnen gesagt. Sie besuchen Verwandte, es wird viel gegrillt, Enver Şimşek geht oft angeln. Urlaub ist ein seltener Luxus für den
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