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Draußen wartet die Welt

Draußen wartet die Welt

Titel: Draußen wartet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Grossman
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altem Regen. Die Geräuschkulisse bestand aus lautem Knallen und endlosem Dröhnen. Die Gehwege fühlten sich hart und klebrig unter meinen Turnschuhen an. Wenn ich mit meiner Mutter in die Stadt ging, war das etwas ganz anderes. Josh legte seine Hand um meine Taille, während wir durch die Straßen gingen, und ich genoss die Wärme, die sich dort ausbreitete.
    Wir bogen um eine Ecke, und er führte mich in ein Gebäude, das sich unter den Bahnschienen befand. Ich hob den Blick. Ich hatte noch nie Bahnschienen gesehen, die mehrere Meter über der Erde verliefen. Zwischen den einzelnen Bahnschwellen blitzte immer wieder ein Stück des grauen Himmels auf.
    »Das ist die El«, sagte Josh.
    Ich sah ihn an. »Die ›L‹?«
    »Das ist die Abkürzung für elevated, also erhöht. Willst du mal damit fahren?«
    Ich grinste. »Ja, bitte.«
    »Okay«, erwiderte er. »Aber vorher müssen wir noch was anderes erledigen. Komm mit.«
    Ich trottete hinter ihm her, bis wir direkt unter den Bahnschienen standen. Die Leute rauschten an uns vorbei, und einige von ihnen drehten sich zu uns um und wunderten sich vermutlich, warum ausgerechnet hier, wo jeder eilig irgendwohin unterwegs war, zwei Menschen vollkommen still standen.
    »Worauf warten wir denn?«, fragte ich.
    »Das wirst du schon sehen«, antwortete Josh. »Es sollte nicht mehr lange dauern.«
    Ich wartete und meine Arme und Beine waren vor Anspannung ganz steif. Josh stellte sich hinter mich und seine Finger schlossen sich um meine Ellbogen. Ich lehnte mich an ihn.
    Dann ging es los, zuerst nur als sanftes Rumpeln, das aus der Ferne heranrollte. Dann wurde das Rumpeln lauter und ein pfeifender Wind sauste durch mein Haar und ließ es vor meinem Gesicht hin und her flattern. Ich wollte weg, wurde von dem Gefühl erfasst, wegrennen zu müssen, so schnell ich nur konnte. Dann rumpelte es nicht mehr. Es donnerte laut und wurde dunkel. Ich machte einen Schritt nach vorn, um wegzulaufen, aber Joshs Griff um meine Arme wurde stärker, und er hielt mich so fest, dass ich nicht wegkonnte. »Es ist alles okay«, sagte er, aber das Donnern riss seine Worte mit sich.
    Es wurde immer lauter, wie bei einem Gewitter, bei dem der Donner einfach nicht verhallen will. Es vibrierte in mir und um mich herum, bis ich das Gefühl hatte, alles habe sich in mir zusammengebraut – der Wind, die Dunkelheit, der Lärm und das Vibrieren. Und dann war es wieder vorbei. Von einem Moment auf den anderen vorbei. Mein Haar legte sich wieder auf meine Schultern, und ich konnte die Stimmen wieder hören, die an mir vorbeihuschten. Joshs Hände hielten noch immer meine Arme umfasst, aber seine Finger hatten sich ein wenig entspannt. Es hatte höchstens zwanzig Sekunden gedauert, vielleicht auch nur zehn. Und trotzdem war es eine Ewigkeit gewesen.
    Josh sah mich mit einem Lächeln an, als ich mich zu ihm umdrehte. Ich hatte Angst, dass es noch einmal passieren würde, und noch mehr Angst, dass es nicht wieder passierte.
    »Das war ein El-Zug«, sagte Josh. »Er ist direkt über unseren Köpfen vorbeigerauscht. Wenn es dir gefallen hat – in etwa fünf Minuten kommt der nächste.« Er lachte, während er das sagte, und auch ich musste lachen. Dieses außergewöhnliche Erlebnis, das einem die Sprache und den Atem verschlug und das Licht verdunkelte, dieses unglaubliche, bebende Ereignis wiederholte sich alle fünf Minuten. Das schien mir einfach vollkommen unmöglich zu sein.
    »Können wir’s noch mal machen?«, bat ich.
    Er lächelte. »Okay, aber diesmal darfst du nicht wieder versuchen, abzuhauen.«
    Ich nickte, drehte mich um und lehnte mich mit dem Rücken an seine Brust. Sein Körper fühlte sich warm und stark an. Ich wartete auf den nächsten Zug, aber diesmal hatte ich keine Angst.
    Als er kam, war ich darauf gefasst. Das Rumpeln, das Donnern, die Dunkelheit, der Wind. Ich war darauf gefasst, dass die anderen Geräusche der Stadt verschwanden und alles, was ich noch hören konnte, dieses Donnern war. Diesmal blickte ich nach oben und sah die dunkle Unterseite des Zugs, der den Blick auf den Himmel versperrte. Alles war genauso wie beim ersten Mal – der Wind, der mein Haar zerzauste, das Vibrieren in meinem Körper, Joshs Hände, die meine Arme fester umfassten. Und die abrupte Stille, bevor die Geräusche der Stadt wieder an mein Ohr drangen. Alles war genauso und trotzdem war alles ganz anders. Ich empfand es nicht mehr als so eindringlich. Es machte mir nicht mehr so viel Angst, war nicht mehr

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