Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
ein.
»Geh endlich. Scher dich zum Teufel.«
Max setzte ohne ein weiteres Wort den Hut auf, stieg ausdem Auto und knöpfte den Mantel zu. Er nahm das Gepäck aus dem Kofferraum und ging durch den Regen davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Er empfand eine unbändige Traurigkeit und Mutlosigkeit, Vorboten der Sehnsucht, die ihn später erfüllen würde. Im Bahnhof übergab er Koffer und Reisetasche einem Gepäckjungen und folgte ihm durch die Menge zu den Fahrkartenschaltern und dann weiter zu den Bahnsteigen, die von zwei Gewölben aus Glas und Stahl überdacht waren. Im selben Moment rollte, umhüllt von dicken Dampfwolken, eine Lokomotive herein, die ein Dutzend dunkelblauer Waggons mit einem goldenen Streifen unter den Fenstern und dem Schriftzug der Compagnie Internationale des Wagons-Lits hinter sich herzog. Auf Metallschildern stand Monaco – Marseille – Lyon – Paris zu lesen. Rasch sah sich Max nach allen Seiten um. Zwei Gendarme in dunklen Uniformen standen plaudernd an der Tür zum Wartesaal. Alles wirkte ruhig, niemand schien ihm Beachtung zu schenken. Auch wenn das nicht unbedingt eine Garantie war.
»Ihre Wagennummer, mein Herr?«, erkundigte sich der Kofferträger.
»Zwei.«
Er stieg in den Zug, übergab sein Gepäck zusammen mit einem Hundert-Francs-Schein dem Wagenschaffner – eine unfehlbare Methode, sich dessen Wohlwollen für die ganze Reise zu sichern –, und während sich der Bahnbeamte verbeugte und an die Mütze tippte, gab Max dem Gepäckjungen weitere zwanzig Francs.
»Danke, der Herr.«
»Nein, mein Freund. Ich danke Ihnen.«
Er betrat sein Abteil, schloss die Tür und zog den Vorhang ein wenig zurück, gerade so weit, dass er auf den Bahnsteig hinaussehen konnte. Die Gendarme standen an derselben Stelle und unterhielten sich, und ihm fiel nichts Beunruhigendes auf. Menschen verabschiedeten sich und stiegen in den Zug. Eine Gruppe Nonnen schwenkte Taschentücher, und eine attraktive Frau umarmte an einer der Waggontüren einen Mann. Max zündete sich eine Zigarette an und machte es sich bequem. Als sich der Zug in Bewegung setzte, blickte er zum Gepäcknetz, wo sein Koffer lag. Er dachte an die im Innenfutter versteckten Briefe. Und daran, wie er lange genug am Leben und in Freiheit bleiben könnte, um sich ihrer zu entledigen. Mecha Inzunza hatte er bereits vergessen.
Der Schmerz, stellt Max fest, erreicht früher oder später ein äußerstes, nicht mehr steigerbares Maß an Intensität. Zwanzig Schläge sind dann dasselbe wie vierzig. Es sind dann nicht mehr die Schläge, die schmerzen, sondern die Pausen zwischen den Schlägen. Die schlimmste Folter ist nicht mehr der Schmerz, den man erleidet, es sind die Momente, in denen der Peiniger seine Tätigkeit unterbricht, um zu verschnaufen. Wenn das Gefühl in den gequälten Körper zurückkehrt und der Körper beim Ausbleiben der Gewalt in sich zusammensackt, sodass der Schmerz überhaupt erst mit voller Wucht spürbar wird.
»Das Buch, Max ... Wo hast du das Buch?«
Die einseitige Unterhaltung ist mittlerweile so weit gediehen – Folter bedingt gewisse Freiheiten in Bezug auf die Umgangsformen –, dass der Mann mit den Tentakelhänden zum Du übergegangen ist. Die Stimme erreicht Max verzerrt und von weit her, weil sein Kopf in ein nasses Handtuch gewickelt ist, das ihm den Atem nimmt, seine Schreie erstickt und einen Teil der Schläge dämmt, sein an den Stuhl gefesselter Körper wird keine oder nur geringe äußere Verletzungen aufweisen. Die übrigen Schläge, denen er durch die erzwungene Sitzposition schutzlos ausgeliefert ist, treffen ihn inden Bauch und Unterleib. Seine Peiniger sind der Mann mit den glatten Haaren und der in der schwarzen Lederjacke. Er weiß, dass sie es sind, weil sie ihm hin und wieder das Handtuch abnehmen und er aus trüben, tränenden Augen sehen kann, wie sie sich die Fingerknöchel massieren, der Dritte sitzt dabei und schaut zu.
»Das Buch. Wo ist es?«
Sie haben ihm das Handtuch vom Kopf genommen. Max schnappt gierig nach Luft, obwohl es bei jedem Atemzug in seinen gemarterten Lungen brennt, als striche die Luft über rohes Fleisch. Schließlich gelingt es ihm, das Gesicht des Mannes mit dem roten Schnurrbart scharfzustellen.
»Das Buch«, wiederholt er. »Sag uns, wo es ist, und wir hören auf.«
»Ich weiß ... gar nichts ... von Büchern.«
Auf eigene Initiative, ohne dass er dazu aufgefordert worden wäre, quasi als persönlichen Beitrag, rammt der mit der schwarzen Jacke Max
Weitere Kostenlose Bücher