Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
wenn du …« Sie bricht ab, erstickt fast an ihren eigenen Worten.
»Es ist alles in Ordnung«, antworte ich. Roboterhaft kommt mir dieser Satz über die Lippen, so oft, wie ich ihn schon zu ihr gesagt habe. So oft, wie James ihn schon zu mir gesagt hat. »Es ist alles bestens.« Und dann öffne ich die Tür und gehe hinein.
4. Kapitel
»Wie war denn die Schule?«, erkundigt sich mein Vater, während wir am Esstisch sitzen und ich die Gabel in das Schweinekotelett steche.
Ich blicke auf, an diese Unterhaltung gewöhnt. Die Gesichter meiner Eltern wirken so erschöpft, die beiden schauen mich an, als könnte allein ich ihnen das Überleben sichern.
»Prima.«
Meine Mutter lächelt, wirft meinem Vater von der Seite her einen beruhigenden Blick zu.
Normalerweise würde unser Gespräch jetzt zu den neuesten Nachrichten wechseln. Etwa dass der Nordwesten die höchste Selbstmordrate der gesamten Nation hat. Kann das an dem ewigen Regen liegen? Die Selbstmordrate unter Jugendlichen steigt auch in anderen entwickelten Ländern mehr und mehr, und dort beobachtet man die Erfolge des »Programms« sehr genau, in der Hoffnung, eine eigene Variante entwickeln zu können. Oder mein Lieblingsthema, dass schon wieder ein Wissenschaftler oder Arzt behauptet, ein Heilmittel entdeckt zu haben – nichts als Propaganda der Pharmakonzerne, die durch das Verbot von Antidepressiva enorme Einkommensverluste erlitten haben.
Doch heute Abend fühle ich mich zu einsam, um meinen Teil der Konversation durchhalten zu können. Was sie aus Lacey gemacht haben, diese leere Hülle, die von ihr geblieben ist – das bringt mich dazu, das Leben zu hassen. Und es bringt mich dazu, dass ich sie nur noch mehr vermisse.
Bevor sie und Miller zusammenkamen, ist Lacey immer nur mit ziemlich kaputten Typen ausgegangen. Bei »bösen Jungs« fühle sie sich am wohlsten, hat sie behauptet. Sie waren immer älter, zu alt, um noch ins »Programm« geschickt zu werden.
An einen Typ kann ich mich noch besonders gut erinnern. Drake. Er war zwanzig und fuhr einen Camaro. Wir waren sechzehn. Eines Abends tauchte Lacey bei mir zu Hause auf, eine Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Ich wusste gleich, dass irgendwas nicht stimmte. Wir sind schnell auf mein Zimmer gegangen, bevor meine Mom sie sehen konnte. Als Lacey die Brille abnahm, sah ich das Veilchen, und ich sah auch die Abschürfungen auf ihrem Arm. Sie sagte, Drake habe sie aus dem Auto gestoßen – während es noch fuhr.
Nun, wenn ich daran zurückdenke, wenn ich mich daran erinnere, wie sie weinte, weil sie nicht wollte, dass ihre Eltern das herausfanden, frage ich mich, was meine Freundin wohl sonst noch verborgen hat. Wie gut ich sie wirklich kannte.
Weil jeder ihre Verletzungen sehen konnte, beschlossen wir, ein bisschen Theater zu machen und so zu tun, als wäre sie von der Veranda gefallen. Wir riefen meine Eltern, taten ganz aufgeregt, weil sich Lacey gerade verletzt hätte, und schon hatte sie die perfekte Ausrede für die Kratzer und das blaue Auge.
Sie hat niemals jemand anderem von Drake erzählt – aber ich habe James eingeweiht, und er hat ihn windelweich geprügelt.
Ich habe damals für Lacey gelogen, und ich habe mich selbst belogen, als sie erkrankt ist. Vielleicht hätte ich sie vor dem »Programm« retten können, wenn ich eine bessere Freundin gewesen wäre. Vielleicht sind wir alle krank.
»Du isst ja gar nichts«, sagt Mutter und reißt mich aus meinen Gedanken. »Ist alles in Ordnung?«
Ich blicke sie an, aufgeschreckt. »Lacey ist heute zurückgekommen«, sage ich, und meine Stimme schwankt.
Sorge schleicht sich in den Blick meines Vaters, und für eine Sekunde denke ich, meine Eltern würden mich verstehen. Dass ich ihnen die Wahrheit über »Das Programm« anvertrauen kann – wie leer es uns zurücklässt.
» Wirklich?« Meine Mutter klingt fröhlich. »Sieh mal an – das hat doch gar nicht so lange gedauert.«
Ich überlege, ob es wirklich klug ist, offen zu ihnen zu reden. Ich blicke auf meinen Teller, auf das zersäbelte Kotelett, das Fleisch an dem Knochen, auf die Apfelsauce, die wie Blut über den ganzen Teller kriecht.
»Es waren sechs Wochen«, murmele ich dann nur.
»Genau«, bestätigt meine Mutter. »Sind doch schneller vorbeigegangen, als du gedacht hast.«
Ich rufe mir in Erinnerung, wie geschickt »Das Programm« die Eltern instrumentalisiert – wöchentliche Gruppentreffen mit Vätern und Müttern, deren Kinder gestorben sind, ständige
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