Dünengrab
eingewickelt worden waren, bestanden nur auf den ersten Blick aus Segeltuch. Tatsächlich, so hatte die Untersuchung im Labor ergeben, handelte es sich um mit Kunststoff beschichtetes Gewebe, das an den Rändern mit Ösen versehen war. Durch diese hatte der Täter Nylonseile vom Durchmesser eines kleinen Fingers gezogen, die Planen zusammengezurrt und die Leichen wie in einem Kokon verpackt. Die Nylonseile bestanden aus einem Material, aus dem handelsübliche Schnüre gefertigt wurden – mit anderen Worten: Man bekam das Zeug in jedem Baumarkt.
Tjark trank einen Schluck Orangensaft und rutschte auf dem Ledersofa in seiner Wohnung in eine bequemere Position. Dann las er weiter. Bei den Planen handelte es sich um Gewebe aus chinesischer Fertigung, die laut KTU in einer Fabrik bei Jinan in der Provinz Shandong von der Firma Hitec Zhangtsu Suppliers hergestellt wurden. Sie wurden als Abdeckung für Lkws und Anhänger benutzt, und es gab sie nicht in jedem Supermarkt. Vielmehr wurden sie in Containern nach Rotterdam und von dort aus zu einem Großhändler nach Aachen verbracht, der an verschiedene Standorte in Deutschland lieferte, an denen wiederum diverse Firmen orderten, um ihre Kunden zu bedienen. Darunter befanden sich Hersteller von bedruckbaren Bannern. Es gab folglich Hunderte Abnehmer. Das machte es nicht einfach zurückzuverfolgen, wer sich solche Planen besorgt haben könnte, um tote Körper darin einzuwickeln. Aber es war immerhin ein Anfang und würde die Soko auf Trab halten.
Tjark stand auf. Er hatte den ganzen Nachmittag in der KTU zugebracht und alle möglichen Analysen gesichtet, die das LKA aus Hannover geschickt hatte, und beschlossen, zu Hause zu übernachten und noch einiges vorzubereiten. Es war heiß in der Wohnung – der Nachteil von Lofts mit großen Flachdächern und Fensterfronten, auf die den ganzen Tag lang die Sonne schien. Er streckte sich und zog das T-Shirt aus. Dann ging er, barfuß und nur mit einer Jeans bekleidet, zum Kühlschrank, um noch etwas kalten Orangensaft zu holen.
Zu den KTU -Ergebnissen gehörten auch Daten zum möglichen Täterfahrzeug. Die Gutachter stützten sich auf die Bremsspuren und die Spuren im Kies von Fokko Broers Auffahrt. Der Abrieb auf der Straße ließ Schlüsse auf die Reifenbreite und den -typ zu. Diesen Spuren sowie dem Achsabstand folgend, handelte es sich bei dem Fahrzeug vermutlich um einen SUV , vielleicht aber auch um einen Lieferwagen oder Transporter. Die Lage war nicht ganz eindeutig, weil die Spuren auf der Straße nicht klar mit denen im Kies korrespondierten, wo sie ohnehin nur vage auszumachen waren. Weiter konnten die Bremsspuren auch von einem anderen Fahrzeug stammen.
Wie dem auch sei, dachte Tjark. Ein Lieferwagentyp wie ein Kangoo oder Sprinter wurde oft von Speditionen benutzt oder von Paket- und Kurierdiensten. Oder von Restaurantbetrieben wie dem Dünenhof für den Einkauf in Großmärkten oder zum Ausliefern von Catering-Produkten. In einem solchen Wagen gab es ausreichend Platz für einen toten menschlichen Körper. Ein SUV wiederum wurde häufig von Förstern oder Hobbyjägern genutzt. Solche besaßen gewöhnlich auch Schrotgewehre, zum Beispiel eine Flinte vom Kaliber 12, das in Deutschland für Jagd und Sport gängig war. Die Ballistik hatte erläutert, dass bei den Taten Sellier & Bellot 12/70-Patronen verwendet worden waren. Nichts Besonderes – gleichwohl würde die Polizei überprüfen, wer solche in der letzten Zeit wo gekauft hatte.
Tjark goss den Saft in sein Glas und stellte ihn in den Kühlschrank zurück. Morgen früh würde er zurück nach Werlesiel fahren. Bei der für zehn Uhr angesetzten Besprechung sollten alle bisherigen Ergebnisse zusammengetragen werden – auch die aus den übrigen Befragungen. Vielleicht würden sie dann etwas klarer sehen. Vielleicht auch nicht. Denn bis sich in einem Fall aus dem anfänglichen Hamstern aller greifbaren Informationen endlich ein Bild gestaltete, konnten Tage vergehen. Tage, die sie sich nicht leisten konnten. Denn irgendwo da draußen befand sich wahrscheinlich Vikki Rickmers in den Händen eines Scheißkerls, der wohl erst aus seinem Loch kriechen und möglicherweise einen Fehler machen würde, wenn er sich wieder sicherer fühlte. Das war bei der massiven Polizeipräsenz vor Ort jedoch unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite würde er vermutlich, sobald er sich sicher fühlte, Vikki umbringen. Die Angelegenheit war vertrackt.
Der Schlüssel lag in jedem Fall bei
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