Ein Mensch namens Jesus
bereuen, Frau des Philippus. Kehre zu deinem angetrauten Mann zurück, den du aus Machtgier verlassen hast. Wenn die Zeit kommt, wird deine Krone schwerer wiegen als ein Berg. Am Tag des Jüngsten Gerichts wirst du vor allen Generationen nackt dastehen und dir deinen von Dämonen aufgeblähten Leib halten, eine Last, von der dich keine Niederkunft befreien wird! Kehre zu Philippus zurück, Herodias!«
Da hob Herodias zu einem solch langen und schauerlichen Gebrüll an, daß es Herodes eiskalt den Rücken hinunterlief. Mit einer Kraft, die man ihr kaum zugetraut hätte, zerriß sie ihren Mantel und schrie: »Dieser Mann muß sterben! Ich will, daß dieser Mann sofort stirbt! Hörst du? Ich will es!«
Die Amme legte der Herrin eilends ihren eigenen Mantel an und führte sie hinaus. Auf Herodes’ Stirn perlte der Schweiß. Manassah zitterte am ganzen Leib; unter dem Gemurmel der Wachen wankten er und sein Herr hinaus.
Selbst die Musiker ganz oben im Saal hatten Herodias’ Schrei gehört; die Musik war verstummt.
Jokanaan in seiner Zelle hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Herr«, flüsterte er, »meine Stunde ist also gekommen. Aber was ist mit der Deinen? Sag mir, ist sie gekommen? Ist der Messias nahe? Ist Jesus wirklich der Messias? Ich habe Dich so oft danach gefragt! Warum feiert er mit den Reichen? Warum verkehrt er mit Frauen? Ich habe meine Boten ausgeschickt, um ihn zu fragen, und sie sind nicht zurückgekehrt! Und in wenigen Stunden werde ich sterben!« Während er so auf dem Boden hockte, begann er seinen Oberkörper sachte vor und zurück zu wiegen, ganz langsam, mit beinahe mechanischer Regelmäßigkeit, eine Bewegung, die die Wachen während seiner zehnmonatigen Gefangenschaft unzählige Male beobachtet hatten. Mit größerem Entsetzen als je zuvor sahen sie ihm von oben her zu.
»Jetzt fängt er schon wieder an!« stieß einer der Wachposten hervor, und er spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. »Jokanaan, tu es nicht! Nicht heute!«
Aber er hörte nicht, hörte nichts mehr. Sie verharrten vor dem Gitter, neigten sich darüber, schaurig erregte Faszination hielt sie dort fest. Die Zeit verstrich, Jokanaan schaukelte noch immer vor und zurück. »Sieh doch, jetzt schwebt er!«
Der Schein der auf dem Boden stehenden Öllampe breitete sich wie eine goldene Pfütze unter dem Körper des Asketen aus und warf seinen hängenden Schatten an die gegenüberliegende Wand.
»So hoch ist er noch nie geschwebt!«
Seine Beine waren nun nicht mehr gekreuzt, doch die Hände hielt er weiterhin fest ineinandergefaltet. Dann, während Jokanaan vom Boden abhob, entspannte sich sein Körper vollends, die Beine hingen locker nach unten, so als werde er von Wellen getragen.
»Im Namen des Herrn!« hauchte ein Wachposten. »Wie stellt er das nur an? Er muß wirklich ein frommer Mann sein! Ich sage dir, Saul, die bringen einen Propheten um!«
»Sei doch still!«
»Jokanaan!«
Er stieg noch höher, und sein Körper nahm eine fast horizontale Lage ein. Auf dem Rücken liegend, schwebte er, sein Kopf mit den tiefliegenden Augen nur mehr ein abgezehrter, mit hauchdünner Haut umspannter Schädel, von dem lange, aufgelöste Haarsträhnen herabhingen. Der Wachposten, der auf den Namen Saul hörte, legte sich bäuchlings über das Gitter, um so das Wunder durch die Eisenstäbe besser beobachten zu können. Jokanaan stieg immer näher zu ihm empor. Das Licht der Wachstube fiel auf seinen nackten Oberkörper und glättete die Haut über den hervortretenden Rippen, dem Schlüsselbein und dem mageren Hals... Dann näherte sich das Gesicht langsam schaukelnd dem Gitter. Jokanaans Unterkiefer hing kraftlos herab, sein Mund war nichts als ein von totenbleichen Lippen umrahmtes schwarzes Loch, die tiefliegenden, geschlossenen Augen waren kaum mehr auszumachen. Man hätte ihn für eine im Halbdunkel tanzende Leiche halten können. Einer der beiden Wachposten stieß einen Schrei aus und verließ fluchtartig den Raum, draußen auf der Terrasse wurde er von heftigem Zittern und Schluchzen geschüttelt. Der andere folgte ihm wankend und mit völlig verstörtem Gesichtsausdruck. Die Posten auf der Terrasse bemerkten die Bestürzung ihrer beiden Kameraden und liefen in die Wachstube, doch kaum hatten sie Jokanaans Gesicht dicht unter dem Gitter erblickt, blieben auch sie, von Entsetzen gelähmt, stehen. Dann rannten sie wie gehetzt und wild gestikulierend zurück ins Freie. Der Hauptmann lief eilends herbei und schüttelte
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