Ein süßer Sommer
Leute zu belauschen, da kannst du noch hundertmal sagen, ihr schnüffelt nicht ohne Grund.» Ich glaubte ihr noch einmal, weil ich ihr glauben wollte, glauben musste, um nicht noch einmal leiden zu müssen wie ein Tier, das nicht weiß, wie es mit dem Schmerz umgehen soll. Wir saßen noch länger als eine Stunde am Tisch, eine Weile schweigend, jeder hing seinen Gedanken nach. Irgendwann sagte sie erneut:
«Es tut mir wirklich furchtbar Leid, Mike. Ich wollte dich nicht benutzen. Und ich habe dir gesagt, dass du es irgendwann denken wirst. Aber du hast dich aufgedrängt, das kannst du nicht leugnen. Ich hab dich so lieb, Mike. Was soll ich noch sagen? Ich wollte ihn doch nur kennen lernen. Verstehst du das nicht?» Sie schniefte, senkte den Kopf und spielte mit ihrem Kaffeelöffel. Ungefähr so wie sie mit Messer und Gabel gespielt hatte, als sie über den Onkologen sprach, der Mamis Krebs behandelte. Das machte mich wachsam, so gut glaubte ich sie inzwischen zu kennen, um aus ihren Gesten und ihrer Körperhaltung meine Schlüsse zu ziehen. Aber diesmal klang es nach der reinen Wahrheit.
«Sie haben mich all die Jahre belogen, Mike. Wenn ich nicht vor unserem Umzug die Rechnung gefunden hätte von der Operation, dann hätte ich nie erfahren, dass Mami nicht meine richtige Mutter ist. Zuerst habe ich gedacht, sie hätten mich adoptiert. Und ich wollte gerne wissen, wer meine Eltern sind. Das ist doch normal, Mike, oder? Jeder Mensch will das wissen. Wie wäre dir zumute, wenn du nicht wüsstest, wer dich neun Monate lang im Bauch hatte?» Ich wusste nicht, was ich ihr darauf antworten sollte, sah zwei, drei Tränen rollen, als sie den Kopf einmal kurz anhob, um die Antwort von meinem Gesicht abzulesen. Nach ein paar Sekunden sprach sie weiter.
«Zuerst wollte ich ja nur wissen, wer mich auf die Welt gebracht und warum sie mich weggegeben hat. Ob meine richtige Mutter mich nicht lieb haben konnte, weil mein Vater ihr etwas Schlimmes angetan hatte. Oder ob sie nur kein Geld hatte, um richtig für mich zu sorgen. Ich habe Rudy gefragt, weil ich – ich konnte damit nicht sofort zu Mami gehen. Sie war immer so …» Eine hilflose Handbewegung, begleitet von einem Achselzucken.
«Mami war nie ganz gesund, Mike. Wirklich nicht, sie wirkt so kraftstrotzend wie das Leben selbst. Aber sie hatte schon mehrfach Krebs und ich entsetzliche Angst, dass sie stirbt. Ich wollte sie nicht aufregen. Rudy hat mit ihr gesprochen. Dann hat sie mir alles erklärt. Sie sagte, meine Mutter hätte mich sehr lieb, viel lieber, als andere Mütter ihre Kinder haben. Sie hätte mich ja auch nicht richtig weggegeben, nur das Beste für mich gewollt und getan, obwohl es ihr unendlich schwer gefallen sei. Aber sie hätte immer davon geträumt, nach Afrika zu gehen und etwas für die Menschen dort zu tun. Und mit einem Baby in ein Land, in dem es nicht mal sauberes Wasser gibt und Moskitos und Malaria, das wäre ja wirklich nicht gut gewesen.»
«Helga ist nicht nach Afrika gegangen», sagte ich.
«Doch, Mike, sie war fast vier Jahre dort. Dann ist sie krank geworden und hat lange in einer Klinik gelegen. Als sie entlassen wurde – sie wollte nicht bei uns leben. Zuerst ist sie nach Boston gezogen und hat in einem Kinderheim gearbeitet. Dann hat sie ihren Mann kennen gelernt und war ständig mit ihm unterwegs. Ich kannte sie kaum. Und Mami sagte, ich müsse das verstehen. Es wäre nicht leicht für Helga, mich zu sehen. Und ich hätte gerne gewusst, ob das etwas mit meinem Vater zu tun hat. Mami sagte, damit hätte es bestimmt nichts zu tun. Und gleichzeitig erklärte sie, nicht zu wissen, wer mein Vater ist.»
«Hast du nie mit Helga darüber gesprochen?» Candy zuckte mit den Achseln.
«Wann denn? Als ich endlich wusste, dass sie meine Mutter ist, waren wir schon in Hamburg und sie irgendwo. Manchmal ruft sie an, aber das Telefon gehört Mami. Kurz nach meinem Abitur habe ich auf dem Dachboden diese alten Tagebücher gefunden. Da dachte ich, vielleicht freut wenigstens mein Vater sich, mich zu sehen.» Dem letzten Satz folgten wieder ein paar Schniefer und ein kurzes, raues Lachen.
«Das war aber ein Irrtum.»
«Wo ist Helga jetzt?», fragte ich. Candy kaute auf der Unterlippe.
«Irgendwo auf dem Atlantik. Ihr Mann vermisst ständig irgendwo den Meeresboden. Sie sind auf dem Schiff zu Hause. Eine eigene Wohnung haben sie nicht. Wenn sie mal ein paar Wochen an Land sind, wohnen sie bei Tom. Ich bin ja nicht mehr da.» Ihre Stimme war so
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