Ein süßer Sommer
hilft, diesen Mann zu finden. Natürlich auch, dass er bereit ist, meine Mutter zu besuchen. Und vielleicht habe ich mir eingebildet, ich könnte sie damit in letzter Sekunde retten.» Mit Messer und Gabel schob sie das letzte Häufchen Röstkartoffel auf ihrem Teller hin und her, vermischte es mit den übrig gebliebenen Zwiebelringen, erklärte dabei tonlos:
«Der Onkologe, der sie behandelt, hat mir von einem hoffnungslosen Fall erzählt, bei dem es zu einer Spontanheilung kam, als sich die Lebensumstände dramatisch veränderten. Das war auch eine Frau – mit einem Leberkarzinom. Ihr Mann muss ein furchtbarer Mensch gewesen sein. Er besuchte sie jeden Abend, die Krankenschwestern sahen ihn oft weinen. Und alle dachten, er weint, weil seine Frau nicht mehr lange zu leben hat. Aber in Wirklichkeit war er ein haltloser Säufer und bettelte sie um Geld an. Wenn sie ihm nichts gab, weinte er eben. Eines Tages wurde er bei einem Streit in einem Wirtshaus erstochen. Man traute sich zuerst gar nicht, ihr das zu sagen. Nur konnte man es ihr auch nicht verschweigen, er kam ja nicht mehr. Und als sie hörte, was mit ihm geschehen war – das war ihre Rettung, Mike. Ein halbes Jahr nach seinem Tod wurde sie als geheilt entlassen.» Noch so ein tiefer Atemzug und einmal kurz mit einem Handrücken über die Augen gestrichen. Dann schränkte sie ein:
«Ich weiß nicht, ob das stimmt, oder ob der Onkologe es mir nur erzählt hat, damit ich mich beruhige. Aber ich habe mich daran festgehalten, weil es mir logisch erscheint. Wenn ein todkranker Mensch plötzlich einen Ausweg aus einer unerträglichen Situation sieht, wieder Hoffnung schöpft und neuen Lebensmut, dann mobilisiert er alle Kräfte. Warum soll so ein Mensch dann nicht gesund werden? Meine Mutter hat diesen Mann wahnsinnig geliebt und er sie ebenso, das weiß ich. Und Krebs ist auch eine Krankheit der Seele, sagte der Onkologe. Ich dachte, vielleicht ist der Mann bereit, so zu tun, als wolle er meine Mutter nun, wo er sie endlich wieder gefunden hat, nicht mehr hergeben. Ich fange bald mein Studium an, bin alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen und auch mit geschiedenen Eltern klarzukommen, theoretisch, meine ich. Sie sollte es ja erst einmal nur glauben. Das wollte ich ihr sagen, wenn ich ihn zu ihr bringe. ‹Sieh mal, wen ich gefunden habe, Mami. Du schuldest Dad nichts und mir noch weniger. Denk jetzt nur an dich. Gib dich nicht auf, Mami. Kämpfe um dein Leben, du kannst noch so viele glückliche Jahre haben.› Und wenn es nicht funktioniert hätte, wäre sie aber nicht so hoffnungslos zugrunde gegangen. Sie hätte in ihren letzten Sekunden noch geglaubt, dass da ein Mann ist, der sie liebt und auch wirklich braucht.» Die grünen Augen wurden dunkler, ihr Glanz intensiver, ein wenig vom Glanz löste sich, perlte am Nasenflügel entlang zum Mundwinkel. Candy richtete den Blick auf einen Punkt über meiner Schulter und flüsterte nur noch.
«Ich dachte, ich könnte wenigstens das für meine Mutter tun. Sie hat so viel für mich getan. Ich sollte alles haben, was ich brauche. Eine Mami, die immer für mich da ist, und einen Dad, der mich liebt. Das tut er auch. Er wollte mich ursprünglich nicht, ich war ein Unfall, aber jetzt bin ich sein Darling. Und dafür hat sie auf alles verzichtet, auf ihr eigenes Leben, verstehst du? Nein, das kannst du nicht verstehen. Männer können so etwas nicht nachvollziehen.» Wieder so eine Situation, in der ich nur nicken konnte. Candy begann sich auf dem Stuhl vor und zurück zu wiegen und sprach dabei weiter – sprach aus, was ich bereits mit eigenen Augen gesehen oder mir zumindest zurechtgelegt hatte.
«Vor unserem Umzug musste viel gepackt werden. Dabei durfte ich helfen. Auf dem Dachboden stand ein Karton mit alten Papieren. Studienunterlagen von ihr, Rechnungen und ein paar Tagebücher. Ich wollte nicht indiskret sein, aber ich war neugierig und habe angefangen zu lesen. Und da habe ich überhaupt erst begriffen, wer wirklich meine Mutter war und wie sehr sie gelitten hat.» Wie lange wir an dem Montagabend noch vor unseren Tellern am Küchentisch saßen, wie lange Candy sich abwechselnd vor und zurück wiegte oder ihr Restehäufchen mit Messer und Gabel bearbeitete, weiß ich nicht mehr. Sie erzählte von Helgas überstürzter Flucht aus Köln zu Margarete nach Philadelphia, nachdem sie dahinter gekommen war, dass ihre große Liebe schon eine Frau hatte. Dass seine Ehe nur noch auf dem Papier bestand, du meine
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