Eine geheime Liebe - Roman
kann ich mir ihre Freimütigkeit nicht erklären, dieses unvermittelte Bedürfnis nach Aufrichtigkeit. Die eiskalte Lucrezia verlor die Fassung und erzählte einer Unbekannten Geheimnisse, die sie zu lange mit sich herumgeschleppt hatte. Ich sah sie an und musste an Carolina denken. Mit meiner Tochter habe ich nie über Herzensangelegenheiten gesprochen. Sie entzieht sich mir. Wir sind nie Freundinnen geworden, das weiß Du.
»Die Tourneen waren Inseln des Glücks, Signora.«
»Das stimmt, Lucrezia. Der traurigste Moment ist gekommen, wenn die sanfte Stimme der Stewardess verkündet, dass sich das Flugzeug im Landeanflug befindet und damit in aller Bestimmtheit die Minuten festlegt, die noch bis zur soundsovielten Trennung fehlen.«
Ohne mein Instrument fühle ich mich wie amputiert. Wenn ich Violine spielen würde, würde ich sie überallhin mitschleppen. Ich könnte sie in den Arm nehmen, sie wiegen, sie behüten. Wie ein Kind.
Sie hatte die Trennung mit emphatischer Trauer erlebt, aber gleichzeitig die irrationale Angst verspürt, sich selbst zu verlieren. Ihre Stimme drang aus der Ferne zu mir, obwohl sie direkt hinter mir war und mir ihre Leidensgeschichte ins Ohr flüsterte. Trostlos und unwiderstehlich kindlich. Wir waren nie weniger als zweihundert Personen, Musiker, Organisatoren, Dolmetscher, Sekretärinnen. Die Tourneen eines großen Orchesters haben ihre Rituale, und dazu gehörte fast zwangsläufig die Abfahrt zu unmenschlichen Zeiten. Drei, vier Busse brachten uns und unsere Instrumente zum Flughafen, der vollständig den Musikern vorbehalten blieb. Oft haben wir durch das Fenster den Tag heraufdämmern sehen. Die Musik hat uns geholfen. Tausende von glühenden Klängen herrschten über diese Augenblicke der Freiheit, und unsere Gefühle setzten ihre ganz privaten Akzente. Immer habe ich die Kollegen beneidet, die allein erschienen und ein Instrumentenköfferchen mit einem Horn oder einer Flöte in der Hand hielten oder Geigen oder Bratschen auf den Rücken geschnallt hatten - Zeug im Wert von Millionen, oft in Raten vom ersten Gehalt gekauft. Ordentliche, disziplinierte Menschen waren das, fleißige Angestellte der Musik, die weniger wilde Künstlermähnen als schlaftrunkene Mienen zur Schau stellten. Die jungen sahen
aus wie verschmitzte Studenten, die alten wie müde Familienväter, denen die Aussicht auf eine gute Pension schon ins Gesicht geschrieben stand. Ein zwanzigjähriger Musiker, der ins Orchester aufgenommen worden war, nachdem er einen Wettbewerb gewonnen hatte, wurde schnell die Seele des Ganzen. Die Alten ertrugen es nicht, ihre Geschichte in den Augen der nachrückenden Generation wiederzuerkennen, und die heimliche Konkurrenz zwischen den Jungen war nicht weit von Grausamkeit entfernt. Die meisten gingen sich aus dem Weg. Der ein oder andere hatte einen Freund, dem er die freie Zeit zwischen Proben und Konzerten widmete, oder es bildeten sich Grüppchen von Leuten, die sich sonst nicht viel zu sagen hatten und sich durch die erzwungene Einsamkeit nun an ganz andere Umgangsformen anpassten. In Wahrheit dachte jeder nur an sich selbst.
Mancher blieb auch für sich, wie Punzi, der erste Trompeter, ein kleines, rundes Männchen mit schmal geschnittenen Triefaugen und Brauen, die sich nicht bändigen lassen wollten. Morgens schmierte er Pomade hinein, aber schon nach wenigen Stunden wucherten sie wieder wie Fragezeichen in sein verwirrtes Gesicht hinein. Während des Konzerts trug er ein Hemd mit durchgeschlissenen Manschetten, das von Knöpfen mit gelblichen Perlmuttornamenten aufgewertet wurde. Seine bunten Söckchen bedeckten kaum die Knöchel und stellten auf der schwarzweißen Palette des Orchesters einen launischen Tupfer dar. Er spielte wie ein Poet, lebte von der Musik, und vielleicht würde er
auch daran sterben. Jeder Ton war einer Ehefrau gewidmet, die an gebrochenem Herzen gestorben war. Für Punzi war das Orchester eine Familie, der man resigniertes Misstrauen entgegenbrachte. Für andere verwandelte es sich in ein Schlachtfeld, auf dem sich Aggressionen und Konkurrenz, persönliche Frustrationen und Spannungen entluden. Streicher und Blasinstrumente waren, wie die Capuleti und die Montecchi aus der Oper von Vincenzo Bellini, zwei große verfeindete Familien. In der Partitur folgten sie diszipliniert der präzisen Bündelung schwarzer Punkte, aber eingeschlossen im Orchestergraben, wo sich ihr Alltagsleben abspielte, verachteten sie sich. Geigen, Bratschen und Celli waren
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