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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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scharfgeschnittenes, intelligentes Gesicht mit einer langen Nase und wachen, verwaschenen Augen. Ihr klarer, rosiger Teint war der eines Menschen mit hellbraunem Haar, das mittlerweile jedoch eine graue, fast weiße Färbung hatte. Ihren Zügen nach zu urteilen war sie eine hitzköpfige Frau mit einer beträchtlichen Portion Courage. Monk konnte sich unschwer vorstellen, daß Hesters Bericht über ihr Verhalten während des Streits haargenau stimmte.
    »Ich bin ein Freund von Miss Latterly«, wiederholte er, um noch einmal Kraft zu sammeln, ehe er zu seiner diffizilen Mission vorstieß.
    »Ja, so sagten Sie zu Agnes«, gab Miss Buchan skeptisch zurück und musterte ihn aufmerksam von seinen polierten Lederstiefeln und den langen, geraden Beinen bis zu seiner wunderschön geschnittenen Jacke und dem glatten, markanten Gesicht mit den grauen Augen und dem zynischen Mund. Sie versuchte nicht, Eindruck auf ihn zu machen. Etwas an seinem Blick und an seinem Verhalten verriet ihr deutlich, daß er selbst keine Gouvernante gehabt hatte. Er besaß nicht den typischen Kinderzimmerrespekt eines Menschen mit den Erinnerungen an eine andere Frau, die über seine Kindheit geherrscht hatte.
    In dem sicheren Wissen, daß seine schlichte Herkunft für sie ebenso offensichtlich war, als hätte er seinen Hinterwäldlerakzent und die Unterschichtmanieren niemals abgelegt, wurde Monk unwillkürlich rot. Ironischerweise hatte ausgerechnet sein einzigartiger Mangel an Furcht ihn verraten, hatte seine Unverwundbarkeit ihn erst recht verwundbar gemacht. All die sorgfältige Selbstveredelung täuschte anscheinend nicht über das geringste hinweg.
    »Und?« fragte sie ungeduldig. »Was wollen Sie von mir? Sie haben den weiten Weg sicher nicht nur deshalb zurückgelegt, um mich anzustarren!«
    »Nein.« Monk riß sich zusammen. »Nein, Miss Buchan. Ich bin Detektiv. Ich versuche, Mrs. Carlyon zu helfen.«
    »Sie verschwenden Ihre Zeit«, gab sie finster zurück; der plötzlich aufflackernde Schmerz schien jeglichen Sinn für Humor und alle Neugier vernichtet zu haben. »Es gibt nichts, was man noch für sie tun könnte, die Arme.«
    »Aber vielleicht für Cassian?«
    Sie kniff die Augen zusammen und sah ihn mehrere Sekunden schweigend an. Monks Blick blieb offen und fest; er wandte ihn nicht ab.
    »Wie könnten Sie ihm schon helfen?« meinte sie schließlich.
    »Indem ich dafür sorge, daß ihm nichts mehr angetan wird.« Mit steifen Schultern, den Blick unverwandt auf ihn geheftet, stand sie reglos da.
    »Das ist unmöglich. Er wird hierbleiben, bei seinem Großvater. Er kann sonst nirgends hin.«
    »Er hat seine Schwestern.«
    Sie spitzte langsam die Lippen, als käme ihr unversehens ein neuer Gedanke.
    »Er könnte zu Sabella ziehen«, schlug Monk behutsam vor.
    »Sie werden es ihm niemals beweisen!« sagte Miss Buchan kaum hörbar. Sie wußten beide, worauf sie sich bezog; sie mußte es nicht erst aussprechen. Sie sahen den alten Colonel so deutlich vor sich, als wäre seine Aura so gegenwärtig wie der beißende Rauch einer Zigarre, nachdem ihr Genießer bereits vorbeigegangen war.
    »Vielleicht doch«, erwiderte Monk bedächtig. »Dürfte ich mit Cassian sprechen?«
    »Ich weiß nicht. Kommt darauf an, was Sie zu ihm sagen wollen. Ich werde auf keinen Fall zulassen, daß er sich aufregt. Der arme Junge hat weiß Gott schon genug am Hals – und es wird noch schlimmer kommen.«
    »Ich werde ihm nicht mehr zusetzen, als ich muß«, drängte Monk. »Und Sie dürfen die ganze Zeit dabei sein.«
    »Worauf Sie sich verlassen können!« sagte sie grimmig.
    »Also schön, kommen Sie mit, stehen Sie hier nicht unnütz herum. Bringen wir es hinter uns.«
    Cassian war in seinem Zimmer. Monk entdeckte keinerlei Schulbücher oder andere Objekte, die einem sinnvollen Zeitvertreib dienten, und schloß daraus, daß Miss Buchan den Wert von erzwungener Ablenkung gegen den des Insich–Gehens sorgfältig abgewogen hatte. Auf diese Weise erhielt der Junge Gelegenheit, verdrängte Gedanken aufzuspüren und ihnen die Beachtung zu schenken, die sie ihm früher oder später zwangsläufig abfordern würden. Monk billigte ihre Entscheidung von ganzem Herzen.
    Cassian wandte sich vom Fenster ab, aus dem er auf die Straße hinuntergesehen hatte. Obwohl sein Gesicht blaß war, wirkte er absolut gefaßt. Man konnte lediglich erraten, welche Gefühle unter all der Haltung an ihm fraßen. Seine Finger umklammerten einen kleinen goldenen Uhrenanhänger. Monk

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