EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
betreffenden Sitzung war es Kreiler gelungen, Anna zum damaligen entscheidenden Abschnitt heranzuführen, in dem Lukas ihr das Leben gerettet hatte.
„Das habe ich nicht gewusst“, sagte Anna, nachdem Kreiler sie zurückgeholt hatte.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Keine Ahnung, da waren gerade Tausende von Eindrücken. Wie Blitze. Ich weiß auch nicht. Hat der Junge von damals mir wirklich das Leben gerettet?“
„Ja, er hat dich gerettet“, sagte er. „Diesen Widerstreit deiner Erinnerung, darüber haben wir doch gesprochen.“
„Der hat sich aber plötzlich zu einer regelrechten Schlacht entwickelt. Was ist nun eigentlich wirklich? Ich komme mir vor wie eine Zuschauerin, die sich zurücklehnt und einen Film anschaut, in dem ich die Hauptrolle spiele.“
Kreiler rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hm …“ Er stand auf. „Möchtest du einen Kaffee? Es lässt sich doch alles viel leichter ertragen mit einer guten Tasse Kaffee.“
„Ja, bitte.“
Er reichte ihr eine volle Tasse.
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Patientin während ihrer Behandlung völlig den Verstand verliert?“
Kreiler lächelte. „Hör mal. Ein Mann geht zu seinem Arzt und sagt: Ach, Herr Doktor, irgendetwas stimmt nicht mit meinem Gedächtnis. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Das macht mich noch wahnsinnig. Da sieht der Arzt ihn an und sagt: Oh, und wie lange haben sie dieses Problem schon?“
Anna grinste und sagte: „Und der Mann antwortet: Welches Problem?“
„Ganz genau. Welches Problem. So und jetzt beruhigst du dich erst mal und trinkst deinen Kaffee.“
***
Nachmittag
Nachdem sie gegangen war, setzte sich Kreiler in seinen Ohrensessel und lehnte sich zurück. Er verschränkte die Finger im Nacken, schloss die Augen und dachte an die Anna, die im Alter von achtzehn Jahren Opfer eines Psychopathen geworden war. Heute Nachmittag hatte sie die erste halbe Stunde, die sie zusammen in dem dunklen Raum verbracht hatten, in Trance stumm auf der Couch gelegen, doch ihr Gesicht hatte ihm das Grauen gezeigt.
Er nahm die Fernbedienung, drückte die Play-Taste und ließ die Glasperlen von Katharinas Kette durch seine Finger gleiten, während er Anna betrachtete, die in Trance war. Im Profil verfehlte ihr Gesicht nur knapp das klassische Schönheitsideal – ihre Nase war ein bisschen zu klein, ihr Kinn ein bisschen zu fliehend. Krähenfüße verrieten, dass sie zu viel grübelte. Ihr blondes Haar war fransig geschnitten und sorgsam frisiert. Sie trug ein ärmelloses dunkelrotes Leinenkleid und rote Pumps. Sie hatte makellose, lange Beine. Wie ihre Schwester.
„Können wir anfangen, Anna? Wie ich sehe, bist du entspannt.“
„Kein Wunder bei den kleinen Glückspillen, die du mir verordnet hast.“
„Sie schaden dir nicht. Kannst du mir sagen, wie spät es ist?“
Anna schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist elf Uhr.“
„Lehn dich zurück. Entspann dich. Konzentrier dich auf meine Stimme, auf meine Worte.“
Jetzt wirkte sie gelöst.
„Erzähl mir von deinen Träumen.“
„Ich habe von Max geträumt. Er brachte mir einen Strauß Rosen. Ich fragte, ob er im Garten welche hat stehen lassen. Er meinte, dass im Garten noch Hunderte von Rosen sind und jede von ihnen mir sagt, wie sehr er mich liebt.“
Ein stechender Schmerz explodierte hinter Kreilers Augen. Er wandte den Blick vom Bildschirm und starrte aus dem Fenster, in der Hoffnung, seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Es gelang ihm nicht.
„Und dann träumte ich von Katharina, die mir aus einem Buch vorgelesen hat. Es hieß Großvater Dämmerlicht . Es war so real, so schön. Kannst du mich da hinführen, Jörg?“, hörte er Anna sagen.
„In diese Zeit? Das finde ich nicht besonders klug, muss ich sagen. Wir haben deine Kindheit bereits hinter uns gelassen. Erinnerst du dich?“
„Kannst du es oder nicht? Ich möchte nicht nur Angst haben, wenn du mich hypnotisierst.“
„Angst? Ich versichere dir, deine Ängste sind vollkommen unbegründet. Denk doch daran, was du hinter dir hast. Zwei Mordanschläge und intensivste Schuldgefühle und Selbstzweifel. Momentan erlaubt es dein Zustand einfach nicht, dass du selbst darüber bestimmst, in welche Zeit du geführt wirst.“
„Du bist ausgesprochen stur und dickköpfig“, sagte sie enttäuscht und zupfte an dem Teddy.
Du auch.
„Hm?“
Unternimm endlich etwas, Jörg!
„Also gut, ich füge mich“, sagte sie schließlich.
„Leg dich zurück. Und jetzt möchte
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