Engelsfluch
Weg war aufgrund des Unwetters noch beschwerlicher als ein paar Tage zuvor. Diesmal mussten sie nicht nur Pfützen, sondern auch kleinen Tümpeln ausweichen. Vanessas Stiefel leisteten ihr gute Dienste. Enrico trug zwar auch feste, aber nur halbhohe Schuhe, und bald hatte er nasse Füße. Irgendwann fragte Vanessa: »Finden Sie überhaupt zum Wagen zurück?«
Grinsend zog Enrico einen Kompass aus der Jackentasche und hielt ihn unter Vanessas Nase. »Ich bin nicht Old Shatterhand, aber ganz dumm bin ich auch nicht. Übrigens sollten Sie mal nach links sehen, hinter den kugelförmigen Busch.«
Vanessa blickte in die von Enrico angegebene Richtung und sagte leise: »Das sieht aus wie die Überreste einer Mauer, einer sehr alten Mauer.«
»Ja«, triumphierte Enrico. »Wir sind auf dem richtigen Weg!«
Bald tauchten links und rechts von ihnen die runden Grabhäuser der Etrusker auf, manche im Laufe der Jahrhunderte so stark von Pflanzen überwuchert, dass sie nur mit Mühe zu erkennen waren. Von einigen Gräbern war kaum noch ein Stein zu sehen, und auf den oberflächlichen Betrachter mochten sie wie natürliche Hügel wirken.
»Faszinierend«, sagte Vanessa, die sich neugierig umsah.
»Ein Paradies für Archäologen.«
»Wenn die erst mal anfangen, hier zu graben, ist es die längste Zeit ein Paradies gewesen.«
»Mag sein. Und in einem dieser Gräber haust der Einsiedler?«
»Ja. Wieso?«
Vanessa schüttelte sich. »Finden Sie die Vorstellung, in einem Grab zu leben, nicht morbid? Es hat so was von lebendig begraben sein.«
Enrico zuckte mit den Schultern. »Angelo scheint sich hier ganz wohl zu fühlen.«
Sie gingen weiter, und er hielt nach Angelos Unterschlupf Ausschau. Es war nicht einfach, denn ein Grab sah aus wie das andere.
Nach zwanzig Minuten des Suchens stieß Enrico einen halblauten Jubelruf aus. »Hier ist es!«
»Sicher?«, fragte Vanessa und musterte den Steinhügel, vor dem er stehen geblieben war. »Das sieht nicht anders aus als die übrigen Gräber.«
»Sehen wir doch einfach nach!«, sagte er und ging langsam die brüchige Treppe hinab. »Seien Sie vorsichtig, sonst bröckeln Ihnen die Stufen unter den Füßen weg!«
Unten blieben sie vor dem dunklen Gang stehen, und Enrico rief laut nach Angelo. Er tat es noch vier- oder fünfmal, ohne eine Antwort zu erhalten.
»Der Hausherr – oder muss es Grabherr heißen? – scheint nicht daheim zu sein«, sagte Vanessa.
»Oder er will nur, dass wir genau das denken.«
Mit eingeschalteten Taschenlampen tauchten sie in den Gang hinein und suchten alle Räume sorgfältig ab, sogar länger als nötig, weil Vanessa die gut erhaltenen Wandmalereien der Etrusker bewundern wollte.
Enrico wies sie auf die vielen geflügelten Figuren hin.
»Halten Sie eine Verbindung dieser Flügelwesen mit den Engeln des christlichen Glaubens für möglich?«
Die Wandmalerei, vor der sie standen, zeigte eins der Flügelwesen, das vor zwei Menschen stand und ihnen etwas überreichte, das wie eine Schale aussah. Die Menschen, Mann und Frau, knieten vor dem Geflügelten und streckten ihm in dankbarer Erwartung die Hände entgegen. Sie waren bekleidet, der Geflügelte hingegen war nackt. Er sah aus wie ein Mann, aber es waren keine Geschlechtsteile zu erkennen. »Sicher ist das möglich«, sagte Vanessa, nachdem sie das Bild eingehend betrachtet hatte. »Vielleicht gehen die etruskischen Engel –
nennen wir sie der Einfachheit halber so – und die der Christen auf ähnliche Gottes- und Jenseitsvorstellungen zurück, vielleicht sogar auf dieselben Ereignisse aus einer Zeit über die wir nichts weiter wissen als das, was uns Überlieferungen wie dieses Bild mitteilen.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass die Menschen irgendwann einmal tatsächlich Besuch von Engeln erhalten haben?«
»Vielleicht waren es keine Engel, wie wir sie uns vorstellen, sondern einfach nur Angehörige einer Kultur, die den übrigen Kulturen auf der Erde überlegen war. So überlegen, dass die Menschen es sich nicht anders erklären konnten, als sie zu Engeln, zu Götterboten, zu stilisieren.«
Enrico schüttelte halb ungläubig, halb missbilligend den Kopf, »Das klingt jetzt aber sehr nach der viel strapazierten Atlantislegende oder nach Erich von Däniken.«
»Kein Rauch ohne Feuer, so heißt es doch. Es bedarf nicht unbedingt Außerirdischer, um Menschen einen Kulturschock erleiden zu lassen. Auch in unserer Zeit gibt es noch ein paar unberührte Flecken in Afrika, Asien oder
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